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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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Bilde in der Illusion wiegen konnte, es würde bei dem einen Mal bleiben.
    »… hier direkt über mir«, ließ mich ihre Stimme hochfahren. Ich musste wohl in meiner Hockposition kurz eingenickt sein.
    »Aber nein!« Das war Titia. »Wann?«
    »Es ist schon wieder eine Weile her. Ich hatte Wuff gerade in den Garten gelassen. Da kommt sie auf den Balkon raus und nimmt zwei Bierflaschen aus der Kiste. Er hinter ihr her. Er zieht sie an sich … so …«
    »Ja.«
    »Und sie dreht sich zu ihm um und fängt an, ihn zu küssen. Auf den Mund. Die Arme fest um ihn. Und er auch …«
    »Er auch …«
    »Ja. Seine Hände, die haben sie überall begrapscht. Da … und da …«
    »Aber Mama!«
    »Ich hab es doch gesehen. Und sie wären bestimmt weitergegangen … ich meine, bis zum Ende … da auf dem Balkon … danach sah es jedenfalls aus … wenn sie mich nicht gesehen hätten …«
    Titia de Bilde gab einen kleinen Schrei von sich.

    »Da waren sie husch, husch weg. Sie hat sich das Haar noch etwas zurechtgestrichen, das war natürlich ganz zerzaust …«
    »Und er … war er …?«
    In dem Moment erklang das durchdringende Pfeifen eines Wasserkessels.
    »Es war doch dunkel. Ich hab mich nicht gerührt, aber sie waren ja auch beschäftigt.«
    »Warte mal … das Teewasser …«
    Das Pfeifen verstummte; dann wurde die Tür zum Garten geschlossen.
    Vorsichtig richtete ich mich auf. Mit einer Hand hielt ich mich an der Spüle fest, mit der anderen drehte ich den Jack Daniel’s auf. Ich tat alles so langsam wie möglich. Trotzdem tanzten mir blaue Flecken vor den Augen, und jedes Mal, wenn ich sie mit dem Blick zu fangen versuchte, schossen sie blitzschnell weg, wie Fische im Aquarium. Auch der Wasserkessel pfiff irgendwo weiter, wenn auch in einer anderen, parallel zu unserer Welt existierenden Dimension.
    Der erste Schluck brannte mir im Hals. Ich spülte vier Tabletten hinunter.
    Auf einem Brett über dem Spülbecken stand zwischen den Kaffeebechern Christines Handspiegel, in dem sie sich immer zurechtmacht, bevor wir ausgehen. Er hat eine normale und eine stark vergrößernde Seite. Ich wählte letztere. Mein Gesicht war wässrig und rot, die Augenlider etwas geschwollen, und auf meiner Oberlippe befand sich ein ekliger schwarzer Grind. Während ich die Tabletten hinunterspülte, ließ ich mich keinen Moment aus den Augen. Dann stellte ich den Spiegel so auf die Spüle, dass ich einen nicht unansehnlichen Teil meiner vergrößerten Person sehen konnte.
    In Easy Rider trinkt Jack Nicholson, der den gerade aus dem Gefängnis entlassenen Anwalt spielt, nach seiner Freilassung seinen ersten Schluck Whisky auf der Straße auseinem Flachmann. Er gibt ein Geräusch von sich, das wie »gluck, gluck, gluck« klingt, dabei bewegt er die Ellbogen rhythmisch auf und ab, als wäre er ein flügelschlagender Vogel.
    In Filmen kommt es öfter vor, dass der Hauptdarsteller in einem Spiegel sieht, wie eine Person den Raum betritt; daher war es wahrscheinlich auch kein Zufall, dass ich das Mädchen zuerst im Spiegel bemerkte.
    Ich schlug noch zweimal mit den Ellbogen und sagte noch einmal »gluck, gluck, gluck«, denn mittendrin aufzuhören, hätte unnatürlich gewirkt.
    Sie hatte langes, schwarzes Haar und große schwarze Augen, aus denen sie mich mit einer Mischung aus Verwunderung und Amüsiertheit ansah. »Guten Morgen, Herr Moorman«, sagte sie fröhlich und ließ einen kleinen, blauen Rucksack auf den Boden gleiten.
    Ich stellte das Whiskyglas auf die Spüle zurück. Erst danach glitt mein Blick an meinem Körper hinunter bis zu der Stelle, wo die Unterhose aufhörte und meine weißen Beine begannen.
    »Ich fange mal mit dem Fußboden im Wohnzimmer an«, sagte sie im selben fröhlichen Ton, »dann können Sie hier in der Küche in aller Ruhe frühstücken.«

2
    Während Christine das Auto rückwärts einparkte, sah ich weiter starr vor mich hin; starr vor mich hinzusehen, war nämlich meine einzige Rettung.
    Es war noch hell, als wir quer durch die Stadt zu meinem Schwager und meiner Schwägerin fuhren, aber als wir in ihre Straße einbogen, wurde es plötzlich rasch dunkel. David saß hinten und summte einen Song auf seinem Walkman mit; es dauerte eine Weile, bis ich die Melodie erkannte. »… in the middle with you«, ich musste unwillkürlich lächeln.
    In der Innenstadt saßen Leute auf den Terrassen, hier waren die Straßen schmaler und die Häuser höher, und obwohl es erst Freitagabend war, stapelten sich an den dünnen, fast

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