Odessa Star: Roman (German Edition)
doch allescheiße. Guckt doch kaum jemand zu. Jedenfalls gibt es absolut keinen stichhaltigen Grund, warum du und deine Schwester hier schon seit Jahren ohne Mutter rumsitzt. Ohne eine Mutter, die einen ins Bett bringt, wie sich das gehört. Es gibt, wie man so sagt, keine wirtschaftliche Notwendigkeit, die Familie Abend nach Abend im Stich zu lassen. Weißt du, was eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist?«
Er nickte.
»Liest euer Vater euch vor dem Schlafengehen was vor?«
»Manchmal.«
»Und magst du das?«
»Manchmal.«
Ich holte ein paarmal tief Luft; mein Kopf brummte wieder wie verrückt. »Dein Vater macht doch rein gar nichts.«
Wilco sah mich noch immer an; offenbar fand er, was ich sagte, interessanter als das Computerspiel mit der Dakota. Ich bezweifelte, dass er jemals länger als zwei Minuten an den Lippen seiner Eltern gehangen hatte.
»Macht er noch diese Puzzles?«
Wilco nickte.
»Und machst du dann mit? Darfst du ihm helfen?«
Auf dem Bildschirm verlor die Dakota rasch an Höhe; Wilco zog die Brauen hoch, bis eine tiefe Falte auf seiner Stirn erschien. Aus dem Wohnzimmer am anderen Ende des Flurs drang Gelächter.
»Oder sind die Puzzles zu schwierig?«, fragte ich rasch.
»Nee.« Er schüttelte den Kopf; er schien noch etwas sagen zu wollen, aber er seufzte nur tief.
»Dein Vater könnte auch mal arbeiten gehen«, sagte ich. »Dann könnte deine Mutter öfter zu Hause bleiben. Mit Puzzeln verdient man kein Geld. Es kann noch so viele Teile haben, man kann sich nichts dafür kaufen, oder mal was Nettes machen.« Ich ging in die Knie, sodass unsere Gesichterauf gleicher Höhe waren. »Vielleicht hast du der Falschen eine verpasst«, sagte ich leise. Ich brachte meine Hand näher an seine Schulter, hütete mich aber davor, ihn zu berühren. »Aber noch ist ja nicht aller Tage Abend.«
Ich streckte die andere Hand nach der Tastatur aus. »Wir müssen aufpassen, dass hier kein Malheur passiert.«
Wilco guckte auf den Schirm. »Mist«, sagte er, drückte ein paarmal auf die Leertaste und zog die Dakota, die zwischen den Häusern zu zerschellen drohte, gerade noch rechtzeitig steil nach oben.
»Aber wenn du es heute Abend nachholst, hast du meine vollste Unterstützung.«
Im Wohnzimmer war die Vorführung inzwischen beim Verlegen der Dachziegel angelangt. Mein Schwiegervater balancierte auf einer Leiter, eine lächerliche blaue Baseballmütze auf dem Kopf. Unten stand ein Mann in einem ebenfalls blauen Overall, der ihm die Ziegel hinaufreichte, zweifellos der selbstlose Weinbauer.
Ich setzte mich an den immer noch unaufgeräumten Esstisch und goss eine benutzte Espressotasse voll mit Calvados. Meine Rückkehr war nicht besonders aufgefallen, jedenfalls wurde kein Aufheben davon gemacht.
Ich warf einen Blick auf meinen Schwager, der im Schneidersitz auf dem Fußboden saß und eine Zigarette rauchte; so setzte er sich wahrscheinlich auch hin, wenn er »meditierte«. Ich versuchte vergeblich mir vorzustellen, was dabei in seinem Kopf vor sich ging.
»Das war nur das Dach des Anbaus«, sagte meine Schwiegermutter. »In diesem Sommer ist das Haus an der Reihe.«
Und dann war plötzlich alles vorbei, alle standen auf. Das Abräumen des Tisches war eine günstige Gelegenheit, es mir auf der Couch bequem zu machen.
Im Fernsehen lief jetzt wieder der Lokalsender: das wöchentliche Interview mit dem Amsterdamer Bürgermeister. Ich wollte gerade weiterzappen, als mir einfiel, dass um Viertel vor zehn die Nachrichten wiederholt würden. Ich schaute auf meine Sportuhr: 21 Uhr 39.
»Noch einen Calvados?«
Vor mir stand mein Schwager, die Flasche in der Hand. Ich schaute mich nach meinem Glas um. »Hier«, sagte er und hob eins vom Boden auf. »Wenn es dir nichts ausmacht.«
Er setzte sich neben mich, reichte mir das Glas und schenkte sich selber auch noch mal ein; der Abspann des Interviews mit dem Bürgermeister flimmerte über den Schirm.
»Was guckst du?«
»Ich warte auf die Nachrichten.«
Aus der Küche hörte man die Stimmen meiner Frau, meiner Schwägerin und meiner Schwiegereltern, die offenbar gerade spülten.
»Gleich nach der Werbung Näheres über den Mord in Amsterdam Zuid«, sagte die Nachrichtensprecherin; wieder sah man das Bild mit dem Absperrband zwischen den Bäumen.
»Das kommt in letzter Zeit immer öfter vor«, sagte mein Schwager. »Fast wie in New York.«
»Ja«, sagte ich. Etwas in mir hoffte inständig, er würde sich verdrücken, bevor die Nachrichten
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