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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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anfingen. Es war kein Vorgefühl, obwohl ich das hinterher leicht als ein solches hätte auffassen können. Ich hatte einfach keine Lust auf die Bemerkungen meines Schwagers. Mir schwante noch nicht, dass der Mord in Amsterdam Zuid etwas mit mir zu tun hatte, geschweige dass er meinem Leben eine ganz neue Wendung geben sollte.
    Ich fühlte zwei Hände auf meiner Schulter. Es war David. »Wann gehen wir denn?«, fragte er.
    »Gleich, nur noch die Nachrichten.«

    Die Werbung war vorbei. Tamar setzte sich zu uns und kuschelte sich an mich.
    In dieser Anordnung – mein Schwager, meine Nichte und ich nebeneinander auf der Couch – befanden wir uns, als das Wort »Mord« und das rot-weiße Absperrband zwischen den Bäumen wieder auf dem Fernsehschirm auftauchten und die Stimme sagte: »In der Frans van Mierisstraat in Amsterdam Zuid wurde heute Morgen der Leichnam eines zweiundsiebzigjährigen Mannes gefunden. Nach Aussage der Polizei handelt es sich um Rolf Biervoort, einen ehemaligen Französischlehrer am Erasmus-Gymnasium in Amsterdam. Er wurde durch einen gezielten Kopfschuss getötet. Für das Motiv des Täters oder der Täter gibt es noch keinerlei Anhaltspunkte, wenn auch die Vorgehensweise, die fast wie eine Hinrichtung wirkt, auf eine Abrechnung im kriminellen Milieu hindeutet.«
    »Was habe ich dir gesagt? Wie in New York«, sagte mein Schwager.

3
    Am nächsten Morgen stellte ich mich so lange wie möglich schlafend; als Christine sich erkundigte, ob ich noch krank sei und ob sie mir Frühstück bringen solle, stöhnte ich nur leise und drehte mich auf die andere Seite.
    »Bleib ruhig gemütlich liegen«, flüsterte sie mir ins Ohr. »David ist bei seiner Freundin, und ich muss schnell noch was einkaufen.«
    Ich wartete, bis die Wohnungstür zufiel, blieb auch noch unbeweglich liegen, bis ihre Schritte auf der Treppe verklungen waren. Erst als die Haustür ins Schloss gefallen war, sprang ich aus dem Bett.
    Ich überlegte, was ich zuerst tun sollte. Die Morgenzeitung? Videotext? Die Nachrichten auf dem Lokalsender? Aus reiner Not wiederholten die Lokalsender nämlich tagsüber alle Programme. Oder doch erst Max anrufen?
    Am Abend zuvor hatte ich mich, nachdem Christine eingeschlafen war, hinuntergeschlichen und mir noch einmal die Bilder aus der Frans van Mierisstraat angeschaut, ohne Ton natürlich. Erst erschienen wieder die rot-weißen Bänder, dann die Kriminalbeamten, die den Gehsteig absuchten; im Hintergrund stand ein blau-weiß gestreifter Landrover der Polizei, wie man sie des Öfteren bei Mordfällen und anderen schweren Straftaten sieht.
     
    Auf dem Küchentisch lag die Volkskrant. Ich holte mir die Zigarettenschachtel aus der Schublade, zündete mir eine an und blätterte die Zeitung zweimal ganz durch; erst beim dritten Mal fand ich unten auf Seite 7 einen kurzen zweispaltigen Bericht:
    Mann in Wohnung erschossen
    Amsterdam – In einer Wohnung in Amsterdam wurde gestern die Leiche eines alleinstehenden älteren Mannes gefunden. Der Polizei zufolge handelt es sich um den zweiundsiebzigjährigen pensionierten Französischlehrer R. Biervoort. Er war mit einem Kopfschuss getötet worden. Die Auswertung der durchgeführten Spurensicherung ergab bisher keine Hinweise auf den oder die Täter. Niemand hat den Schuss gehört, auch konnten keine Einbruchsspuren festgestellt werden. Der Mann lag im Eingang seiner Wohnung, was darauf hinweisen könnte, dass er dem Täter die Tür geöffnet hat. Sein lebloser Körper wurde gestern Morgen von der Putzfrau gefunden.
    Obwohl ich den Bericht mehrmals las, konnte ich auch zwischen den Zeilen nichts entdecken, was mich weitergebracht hätte. R. Biervoort (72), »unser« Biervoort, dem ich vor knapp einer Woche mit Max G. zufällig im Delcavi in der Beethovenstraat über den Weg gelaufen war – erschossen. Mit einer einzigen Kugel.
    Ich steckte mir noch eine Zigarette an, kochte mir Kaffee und gab einen Schuss Jack Daniel’s dazu. Nachdem ich es mir auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht hatte, schaltete ich den Fernseher ein.
    Der Bericht im Videotext unter Nummer 107 unterschied sich kaum von dem in der Volkskrant; er war sogar noch etwas kürzer, und Biervoort war zwei Jahre älter geworden (74).
    Während sich der verlängerte Kaffee zischend einen Wegdurch die Speiseröhre bahnte, ließ ich noch einmal die letzte halbe Stunde des Abends bei meinem Schwager und meiner Schwägerin Revue passieren. Keiner hatte die Nachricht, dass das Opfer am

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