Odessa Star: Roman (German Edition)
Schwiegervaters; ich hatte ihn nicht hereinkommen hören und zuckte zusammen, worauf er in dröhnendes Gelächter ausbrach.
»Bleib doch sitzen. Nichts hilft besser gegen Grippe als ein doppelter Cognac, ist meine Devise.«
Marcel Vriend gehört zu dem Schlag von Menschen, die sich mehr über ihre eigene Anwesenheit freuen als über die anderer Leute. Es zeigt sich in der Art, wie er einem die Hand drückt, ein wenig zu kräftig, als wolle er betonen, dass er trotz seines fortgeschrittenen Alters noch immer topfit sei, und auch im Ton seiner Stimme oder besser gesagt in der Art, wie er gemächlich Wörter und Sätze aneinanderreiht, immer wieder längere Pausen einlegend, die aber dem Gegenüber keineswegs die Gelegenheit bieten sollen, auch mal etwas zu sagen.
»Was wir wieder erlebt haben!«, sagte er und ließ sich neben mich auf die Couch fallen. »Du glaubst es nicht …« Und dann legte er mit einer Geschichte los, die er bis an ihre äußersten Grenzen ausdehnte, von einem französischen Weinbauern, der ihm mit seinem Traktor geholfen hatte, die traditionellen Dachziegel für den Ausbau ihres Sommerhauses herbeizuschaffen. Die Kunst bestand darin, nur mit halbem Ohr zuzuhören, ohne den Plot aus den Augen zu verlieren; im Lauf der Jahre hatte ich es darin zu einer gewissen Perfektion gebracht.
So vernahm ich, dass der Weinbauer zwar für seine Dienste keine Bezahlung verlangte, meine Schwiegereltern aber die Hauptabnehmer seiner unetikettierten Weinflaschen waren. Die andere Hälfte meiner Aufmerksamkeit richtete ich auf den Fernseher, wo gerade der Gewinner eines roten Opel Astra die Glückwünsche des Präsentators eines Lotteriespiels in Empfang nahm. Der glückliche Gewinner, ein Mann Anfang dreißig in einem gelben Sakko, schien sich aufrichtig über ein so hässliches Auto zu freuen: Durch die halb geöffnete Wagentür winkte er seiner Frau im Publikum zu und streckte den Daumen nach oben. Die Frau, die ihr braunes Lockenhaar zu einem Reiher-oder Storchennest aufgetürmt hatte, war womöglich noch hässlicher als der Opel.
»Er ist tausendmal besser als das Zeug, das sie hier im Supermarkt verkaufen«, hörte ich meinen Schwiegervater sagen. »Und weißt du, woher das kommt?«
Weil keine Konservierungsmittel drin sind, antwortete ich in Gedanken; ich schüttelte verneinend den Kopf.
»Weil keine Konservierungsmittel drin sind«, sagte mein Schwiegervater.
Zu meinem großen Schrecken holte er aus einer schwarzen Tasche, die mir vorher gar nicht aufgefallen war, eine Videokamera hervor. Er rutschte von der Couch auf die Knie und kroch zum Fernseher; von der Rückseite der Kamera baumelte ein Kabel.
»Weißt du, wo man das reinsteckt?«, fragte er.
»Keinen blassen Schimmer.« Bisher war der einzige Lichtblick Yvonnes blutige Nase gewesen; für einen ganzen Abend ein bisschen zu wenig. Aber ein Videofilm meiner Schwiegereltern von ihrem Domizil in der Dordogne war das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.
Ich hatte den Kanal gewechselt und sah Leute, die auf einem Bürgersteig Blumen niederlegten und Teelichter anzündeten, wahrscheinlich wieder für ein Opfer »sinnloser Gewalt«. Wäre es nicht viel befriedigender, so fragte ich mich, wenn man zum Haus oder zur Wohnung der Familie des Täters ziehen und dort die Fensterscheiben einschmeißen würde, um anschließend beispielsweise einen Brand zu legen? Wäre das nicht ein wirkungsvolleres Signal an die Täter? Würde es nicht vielleicht dazu beitragen, solche Akte »sinnloser Gewalt« zu reduzieren?
Mein Blick fiel auf den mir zugewandten, in eine braune Cordhose gehüllten Hintern meines Schwiegervaters, der auf der Rückseite des Fernsehers nach einer Buchse für sein Kabel suchte. Die Videokamera lag neben ihm auf dem Fußboden – ein gezielter Tritt, und sie wäre vorläufig unbrauchbar, doch in dem Moment kam mein Schwager ins Zimmer, direkt hinter ihm Yvonne, meine Frau und meine Schwiegermutter.
So auf den ersten Blick gehört Dana Vriend-Goedhart nicht zu den Frauen, die den Ehemännern ihrer Töchter das Leben zur Hölle machen. Sie hat ein stark zerknittertes, aber freundliches Gesicht, das trotz ihres Alters unbändige Vitalität und Lebenslust ausstrahlt; doch viele Leute, darunter meine Wenigkeit, fühlen sich im Dunstkreis dieser Vitalität und Lebenslust schon bald unbehaglich oder halten sich für überflüssig. Es ist, als würde man gegen sie immer den Kürzeren ziehen. Meine Schwiegermutter steht sozusagen
Weitere Kostenlose Bücher