Odessa Star: Roman (German Edition)
gestiefelt und gespornt vor der Haustür, wenn die anderen noch nach ihren Schuhen und Jacken suchen. »Wie lange braucht ihr denn noch?«, ruft sie dann mit ihrer melodischen Stimme, »ich warte schon seit Stunden.«
»Guten Abend, mein lieber Junge, bleib doch sitzen«, sagte sie jetzt zu mir, bevor ich auch nur eine Bewegung machen konnte. »Ein Kranker sollte sich nicht verausgaben.«
Während mir ihre flaumigen, zerknitterten Wangen und strohtrockenen Lippen übers Gesicht strichen, wechselte ich einen Blick mit meiner Frau.
»Hast du deine Brille verloren, oder machst du mal wieder Umstände?«, fragte meine Schwiegermutter ihren Mann, der auf allen vieren hinter den Fernseher gekrochen war; er hatte offenbar gerade das Kabel angeschlossen, denn das Bild wurde schwarz, und oben in der Ecke zeigte ein grünes Quadrat mit Pfeil den Videokanal an.
Kurz darauf waren auch die ersten Aufnahmen zu sehen: Ein Traktor fuhr einen mit Bäumen bestandenen Hügel hinauf; drei braune Kühe grasten hinter Stacheldraht; ein Haufen Dachpfannen an einem Feldweg – mein Schwiegervater kroch hinter dem Fernseher hervor und drückte ein paar Tasten auf der Videokamera. Die Dachpfannen, die braunen Kühe und der Traktor kamen in umgekehrter Reihenfolge und beschleunigt vorbei, der Traktor fuhr außerdem rückwärts. Meine Schwiegermutter stand mit Blümchenschürze an einer Spüle voller Einmachgläser und goss, ebenfalls rückwärts, etwas aus einem Topf ab; wegen des schummrigen Lichts, das durch ein einziges beschlagenes Fenster hereinfiel, war nicht genau auszumachen, um was es sich handelte.
Mein Schwiegervater drückte wieder auf eine Taste, das Bild flackerte, wurde schwarz, und dann erschien die schielende Nachrichtensprecherin des Amsterdamer Lokalsenders. Der Ton war zu leise, aber man sah das Bild einer nächtlichen von Bäumen gesäumten Straße und ein rot-weißes Absperrband. Unter dem Foto stand in fetten Großbuchstaben: MORD .
»Wenn sich alle einen Platz suchen«, sagte mein Schwiegervater, »dann kann die Vorführung beginnen.«
In die nächtliche Straße kam jetzt Bewegung: Polizisten in Uniform und in Zivil liefen herum und hoben etwas vom Bürgersteig auf. Man sah im Hintergrund mehrere Streifenwagen und einen Krankenwagen, alle ohne Blaulicht.
»Rück mal ein bisschen«, sagte meine Frau und gab mir einen Schubs. Tamar stellte sich vor den Fernseher, einen Kuchenteller mit einer dunklen, undefinierbaren Torte in der Hand. »Wer will ein Stück? Hat Oma selber gebacken.«
»Mach mal einen Schritt zur Seite«, sagte ich.
Tamar funkelte mich entrüstet an und legte den Kopf schief, als überlegte sie, ob sie mich herausfordern sollte, sie mit Gewalt von der Stelle zu entfernen – aber etwas in meiner Stimme ließ sie davon absehen. Die Straße kam mir irgendwie bekannt vor, aber eben so, wie einem alle Straßen in Amsterdam irgendwie bekannt vorkommen.
»Sitzt ihr alle bequem?«, fragte mein Schwiegervater – die Amsterdamer Straße wurde von meiner Schwiegermutter abgelöst, die sich, anfangs nicht ganz ruckelfrei, auf ein ländliches Mäuerchen setzte. Sie trug das karierte Kopftuch einer Bäuerin und hielt in den Händen ein absichtlich dilettantisch ausgesägtes Holzschild, auf dem in schnörkeligen Buchstaben »Les Enfants du Paradis« gemalt war.
Es war der Name, den sie ihrem Sommerhaus gegeben hatten, abgekürzt nicht etwa zu »Le Paradis«, sondern zu dem debilen »Les Enfants«. Noch schlimmer war, mit welcher Selbstverständlichkeit die übrigen Familienmitglieder, nicht zuletzt mein Schwager und meine Frau, die Bezeichnung übernahmen: »Papa und Mama sind bis Ende September in ›Les Enfants‹«, oder »Diese Porzellanfigur passt perfekt auf den Kaminsims in ›Les Enfants‹«. Ich stemmte mich mit beiden Händen vom Sofa; ein Schauer von Funken und Sternen flog an der rosaroten Innenseite meiner Augenlider vorbei.
»Wo gehst du hin?«, fragte Christine.
»Ich beabsichtige, mich im Flur zu übergeben statt hier auf der Couch.«
An der Tür sah ich mich um; meine Frau stützte das Kinn in die Hand, eine Haltung, die Interesse signalisieren sollte, mein Sohn lehnte, die Hände in den Hosentaschen, gegen die Rückenlehne der Couch, er gab sich kaum Mühe, seine wahren Gefühle zu tarnen, wenn ich mir auch eingestehen musste, dass ich seine wahren Gefühle nicht kannte. Yvonne saß am Esstisch, die Beine übereinandergeschlagen, einen Ellbogen auf der Tischplatte, auf der noch die
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