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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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Teller mit den Fischresten standen. Mein Schwager saß auf der Armlehne der Couch, in einer Hand lässig ein Glas Calvados, und Tamar hatte sich auf den Fußboden gesetzt, die Tortenplatte mit dem unangerührten Kuchen auf dem Schoß. Meine Schwiegermutter stand etwas abseits und betrachtete sich selbst auf dem Fernsehschirm mit fast gerührtem Blick.
    Mit äußerster Willensanstrengung versuchte ich mir vorzustellen, wie ich da inmitten dieser Familienszene ausgesehen haben mochte. Ich wollte mich selber sehen, wie ich da gerade zwischen den anderen auf der Couch vor dem Fernseher gesessen hatte. Oder besser gesagt, ich hätte gern gewusst, wie ein Außenstehender es sehen würde. Würde er mich sofort als Fremdkörper erkennen, oder fügte ich mich vortrefflich in das Ganze ein?
    Auf dem Klo pinkelte ich ins WC -Becken, ohne erst dieKlobrille hochzuklappen. In dem runden Spiegel über dem Waschbecken sah ich, dass meine Augen rot und wässrig waren, und auch die Haut um den Mund herum war etwas straffer als normal, aber ansonsten konnte ich eigentlich nichts Auffälliges entdecken.
    Hinter dem Rahmen des Spiegels steckten ein paar Ansichtskarten, mein Blick fiel auf das Foto eines malerischen Fischerdorfes, im Hafen viele weiß-rote Boote. Saludos de Menorca stand in roten Buchstaben im Blau der Wellen.
    Ich kontrollierte, ob die Tür abgeschlossen war, und zog die Karte vorsichtig hinter dem Spiegel hervor. »Lieber Jan, Yvonne, Wilco & Tamar«, stand auf der Rückseite in der Handschrift meiner Frau. »Wir genießen die Sonne, den Strand und das herrliche Essen. Es gibt hier viele Tintenfische, die man durch die Taucherbrille ganz wunderbar sehen kann. Liebe Grüße, Christine, Fred & David.«
    Ich stellte mir das teilweise von einer Taucherbrille verdeckte Gesicht meiner Frau vor – ihr gelöstes und schwerelos im Wasser schwebendes Haar – nur wenige Zentimeter von einem Tintenfisch in seinem natürlichen Lebensraum entfernt. Wie alt können Tintenfische eigentlich werden, fragte ich mich.
    Ich klemmte die Ansichtskarte wieder hinter den Spiegel und öffnete die Tür. Eine ganze Weile blieb ich unschlüssig im Flur stehen. Aus den Geräuschen, die mich aus dem Wohnzimmer erreichten, konnte ich schließen, dass die Vorführung des Urlaubsvideos noch in vollem Gange war.
    Ich hörte Yvonne sagen: »Und die Dachziegel habt ihr alle selber raufgetragen? Seid ihr verrückt!«
    Ganz hinten fiel durch eine nur angelehnte Tür ein bläulicher Lichtschein in den Flur. Auf leisen Sohlen schlich ich mich näher, an einem roten Schreibtisch saß Wilco an seinem Computer und starrte mit gerunzelter Stirn auf den Schirm, auf dem ein Flugzeug niedrig über ein Wohngebiet flog.

    Ich räusperte mich. »Darf ich reinkommen?« Wilco blickte nur kurz auf. »Was für ein Spiel ist das?«
    Er seufzte tief. »Das siehst du doch«, sagte er und strich sich mit der Hand übers Gesicht. »Außerdem ist es kein Spiel.«
    Ich widerstand der Versuchung, ihn mit einem gezielten Haken k. o. zu schlagen, stattdessen legte ich die Hand vertraulich auf die Rückenlehne seines Stuhls. Ein kaum wahrnehmbarer Schauder überlief ihn; wie die meisten »hochbegabten« Kinder grauste er sich vor Berührungen. Ich beugte mich vor, bis sich unsere Gesichter ganz nah waren. Auf dem Monitor huschte das Flugzeug, eine zweimotorige Dakota, im Tiefflug über die Häuser, streifte mit der Flügelspitze einen Schornstein und stürzte ab, ein Feuerball breitete sich aus und füllte schließlich den ganzen Bildschirm. Wilco drückte auf Enter, worauf sich der Himmel über der Stadt wieder aufklärte und die Dakota in großer Höhe erneut ihren Flug begann.
    »Ziemlich cool vorhin«, sagte ich.
    »Was?« Er sah mich nicht an und hämmerte auf den Tasten herum; ich nahm die Hand von der Rückenlehne.
    »Wie du deiner Mutter eine geballert hast«, sagte ich und schlug mit der linken Faust in die offene rechte Handfläche. »Whamm! Voll auf die Nase. Nee, wirklich, alle Achtung.«
    Weil er seinen Kopf zur Seite drehte, wiederholte ich die Demonstration mit der Faust. »Patsch!«, sagte ich. »Sie müssen auch nicht ständig auf unwichtigen Dingen herumhacken.«
    Es war immer eine unfokussierte Leere in Wilcos Blick, auch wenn er einen, was selten vorkam, direkt ansah; aber ich war mir sicher, dass er jedes meiner Worte gehört hatte. Ich nickte ihm aufmunternd zu. Es ging jetzt darum, ihn bei der Stange zu halten.
    »Die Rollen, die deine Mutter spielt, die sind

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