Odessa Star: Roman (German Edition)
her?«, fragte mein Sohn und wischte sich den Milchschnurrbart ab.
Ich trat ins volle Licht der Küche und nahm ihm die Milchtüte ab.
»Kinder«, sagte ich, »wir müssen die Polizei rufen. Habt ihr den Hund nicht jaulen gehört? Ich bin gerade unten gewesen. Wenn ihr mich fragt, ist er seit Tagen allein. Ich fürchte, da ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung.«
Ich stellte die Milchtüte auf die Spüle; im selben Moment merkte ich, wie Nathalie mich mit zusammengekniffenen Augen anstarrte. Es war nicht mehr der besorgte Blick derKrankenschwester, sie sah mich an, als wollte sie sich mein Gesicht einprägen – als würde sie jetzt schon mit der Möglichkeit rechnen, dass ihr später Fragen gestellt würden; Fragen, die sie nach bestem Wissen und Gewissen beantworten würde.
6
Die Polizeibeamten kamen erst am nächsten Morgen. Sie waren zu zweit. Der eine hatte eine etwas dunklere Hautfarbe, irgendein molukkischer oder indonesischer Einschlag; der andere hatte die schweren Augen von Menschen, die unter Schlafstörungen leiden oder Alkoholprobleme haben. Sie machten mir keinen besonders cleveren Eindruck, nicht gerade der Typ, der nach einem Mord die Patronenhülsen vom Bürgersteig aufsammelt, sondern eher dafür zuständig, einen außer Kontrolle geratenen Streit zwischen Nachbarn zu schlichten oder eine Katze aus der Dachrinne zu quatschen.
Trotzdem blieb ich auf der Hut. Meine Frau verpasste nie eine Wiederholung von Columbo, und meist leistete ich ihr dann Gesellschaft. Die Tatsache, dass sie es nicht der Mühe wert gefunden hatten, sofort nach meinem Anruf um vier Uhr morgens vorbeizukommen, bedeutete überhaupt nichts: Wer in einer holländischen Großstadt auf der Straße ausgeraubt oder zusammengeprügelt wird, braucht schon lange nicht mehr auf die Hilfe der Polizei zu rechnen.
»Also, Sie sagen, die Frau hat eine Gehhilfe benutzt?«, fragte der Müde; wir standen im Schlafzimmer, dessen Vorhänge geöffnet waren. Das Bett war unbeschlafen. Ein nicht unwichtiges Detail, schien mir. Aber ich hatte mir vorgenommen, keine Fragen zu beantworten, die man mir nicht vorher gestellt hatte.
»So ist es. Sie ging nie ohne aus dem Haus.«
»Woher wissen Sie das«, fragte der Molukker. Mir fiel jetzt auf, dass das Wasser in dem Glas etwas trübe war, und ich fragte mich, welchem Zweck es wohl diente.
Die Frage des Molukkers war schon die zweite, die leicht zu beantworten war. Ob sie mir auch noch schwierige Fragen stellen würden? Aber dann ging mir durch den Kopf, dass schwierige Fragen einfach nicht möglich waren. Ich kam gerade von einem zweiwöchigen Urlaub zurück und hatte schon am ersten Tag die Abwesenheit meiner Nachbarin entdeckt. Etwas, was mich außerordentlich gewundert hatte, weil sie eigentlich nie nach sechs Uhr abends aus dem Haus ging.
Man brauchte nur die in der Wohnung verstreuten Hundehaufen zu zählen, um zu einer groben Schätzung der Tage zu kommen, an denen sie nicht mehr zu Hause gewesen war. Ich hatte sechs gezählt, das lief auf zwei bis vier Tage hinaus. Aber auch davon würde ich die beiden Polizisten nicht von mir aus in Kenntnis setzen.
»Ich bin ihr öfter auf der Straße begegnet«, antwortete ich; mein Blick fiel auf den Stuhl am Fußende des Bettes. Auf dem Sitz lag eine rosafarbene Strumpfhose, darunter standen zwei blaue Pantoffeln.
Der Molukker sah mich erwartungsvoll an, offenbar erhoffte er sich eine eingehendere Erläuterung. Der von Schlaflosigkeit geplagte Polizist war ans Fenster getreten und starrte mit leerem Blick auf den Garten.
Um sieben Uhr in der Frühe war ich drauf und dran gewesen, Max anzurufen, jetzt bereute ich, es nicht getan zu haben. Ich hatte ihn nicht stören oder gar aus dem Bett klingeln wollen wegen etwas, was abgemacht war und worüber ich besser keine Einzelheiten erfuhr. Stephen King hateinmal in einem Interview gesagt, er wisse beim Schreiben nie vorher, wer der Täter sei. »Wenn ich es wüsste, wüssten es die Leser auch.« Und so konnte ich auch nicht verraten, was ich gar nicht wusste. Andererseits war ich im Moment vielleicht mehr der Leser als der Autor: der Leser, der wissen möchte, warum sich Frau de Bilde zum ersten Mal seit Menschengedenken ohne ihre rosafarbene Strumpfhose und ihre blauen Pantoffeln zu einem Spaziergang aufgemacht hatte, von dem sie nicht zurückgekehrt war.
»Wissen Sie, ob sie noch Angehörige hat?«, fragte der Müde am Fenster.
»Nur eine Tochter«, sagte ich. »Soviel ich weiß.«
Titia! Der Name
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