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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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Ohren gekommen war; und die Großeltern würden ihm interessiert zuhören, die selber, was das wahre Leben betraf, die größten Ignoranten waren. Und keineswegs zufällig. Alle naselang liefen sie auf Demonstrationen mit, gegen den Hunger oder gegen vergessene Kriege in Ländern, deren Namen niemand freiwillig zu behalten sich bemüßigt fühlt, der bei vollem Verstand ist. Sie arbeiteten nicht mehr und konnten daher in aller Ruhe an normalen Arbeitstagen zu einer Demo vor dem Zaun eines »multinationalen Konzerns« ausrücken, an der sonst kein Schwein teilnahm, oder Flyer verteilen gegen den Bau eines »pharmazeutischen Labors für genetische Manipulation«. Wenn man es sich genau überlegte, war es so schrecklich, dass es sich kaum in Worte fassen ließ, mit welcher organisierten und in keiner gängigen Maßeinheit auszudrückenden Leere Christines Eltern die letzten Jahre ihres Lebens füllten.
    »David …«, sagte ich und hörte in dem Moment, wie sich oben die Balkontür öffnete. Ich murmelte einen Fluch.
    Zu meiner nicht geringen Genugtuung schien sich auchDavid über die ungebetene Einmischung seiner Mutter in unser gemeinsames Abenteuer zu ärgern. Er muss zehn oder elf gewesen sein, als er Christine deutlich machte, dass er auf ihre Anwesenheit am Spielfeldrand keinen Wert mehr legte. Sie stieß nicht nur entsetzte und erboste Schreie aus, wenn jemand in die Beine ihres Sohnes grätschte, sondern sie beanstandete auch seine in ihren Augen rüden Attacken gegen gegnerische Spieler. Kurzum, sie stand seiner Entwicklung in diesem Bereich im Wege, während ich als Vater ein Auge zudrückte bei der für alle sichtbaren Verrohung der Sitten auf dem Fußballfeld. Trotzdem wurde mir ein knappes Jahr später auf wenig subtile Weise, nämlich durch völliges Ignorieren, zu verstehen gegeben, dass auch die Zeit der Väter vorbei war.
    »Ja …?« Ich sah zu meiner Frau hoch und unternahm keinerlei Versuch, meinen Zorn zu verbergen.
    »Ich … ich dachte …« Als Christine mein Gesicht sah, schluckte sie ihre Worte wieder hinunter. Sie hatte sich mit beiden Händen auf die Brüstung des Balkons gestützt. Und dann dreht sie sich zu ihm um und fängt an, ihn zu küssen. Ich starrte auf die paar Grashalme zwischen den Platten. »Ich dachte, ich lasse meine beiden tapferen Männer nicht im Stich«, sagte sie leise.
    In einem der Nachbargärten fing jemand an zu singen. Es war eine schwere, wahrscheinlich betrunkene Männerstimme, die Melodie, soweit man sie als solche bezeichnen konnte, kam mir irgendwie bekannt vor. Fast eine ganze Minute standen wir reglos da und lauschten, meine Frau auf dem Balkon und ihre »tapferen Männer« unten im Garten.
    »Komm«, sagte ich schließlich zu David und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Let’s get it over and done with.«
    Wir schoben die Ranken der Kletterpflanze beiseite und stemmten die Tür des Schuppens auf, während wir die Blicke unserer Frau und Mutter die ganze Zeit im Rücken spürten. Ein Abenteuer war es längst nicht mehr; aber mein Herz überschlug sich, als ich über ein paar wahrscheinlich mit Erde gefüllte Säcke stieg und hineinging.
    Es roch feucht und schimmelig wie nach vor langer Zeit vergessenen Champignons. An der Rückwand stand eine uralte Mähmaschine, mit der ich ab und zu die Tochter den Rasen hatte mähen sehen, und auch ein paar einfache Gartenwerkzeuge wie Harke und Spaten. Auf einer kleinen Werkbank standen neben einem verrosteten Vogelkäfig Blumentöpfe und Pflanzkübel.
    »Und?« An dem Ton seiner Stimme erkannte ich, dass auch mein Sohn jegliches Interesse an dem Abenteuer verloren hatte; er schien nicht einmal Lust zu haben, hereinzukommen.
    »Nichts«, sagte ich.
    Über der Werkbank hing an einem Haken eine Schubkarre aus Holz, keine gewöhnliche, sondern eine in kleinerem Maßstab. Es dauerte eine Weile, bis bei mir der Groschen fiel. Es war ein Spielzeug, aber eines, das mit Liebe und Sorgfalt hergestellt worden war: Das Rad hatte dieselbe Farbe wie die Griffe, alles war mit einem transparenten Lack überzogen, wodurch der Schubkarren fast aussah wie am ersten Tag, obwohl zu erkennen war, dass er sich an ein Modell anlehnte, das heutzutage nicht mehr mit dieser Liebe und Sorgfalt – mit diesem handwerklichen Können – hergestellt wurde.
    Und während ich den Schubkarren betrachtete und über einen der grünen Griffe strich und weiter über die subtile Krümmung des Arms zur Mulde, bekam sein Schöpfer plötzlich ein

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