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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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Gesicht.
    Für mich stand es außer Zweifel, dass der Tischler, der dieses wunderbare Spielzeug geschaffen hatte, und der bisher anonyme Erzeuger von Titia de Bilde ein und dieselbe Person waren. Ich sah jetzt auch ihren vierten (oder fünften?) Geburtstag vor mir, an dem das Geschenk ausgepackt wurde. Die abgrundtief hässliche, aber geliebte Tochter stieß Schreie des Entzückens aus, der Vater strahlte vor Stolz und ermunterte sie, den Schubkarren sofort auszuprobieren; es war an einem schönen Mittag auf dem Rasen hier vor dem Schuppen – doch nicht viel später starb der Vater ganz plötzlich oder er suchte das Weite aus zwingenden Gründen, die nichts mit der Liebe zu seiner einzigen Tochter zu tun hatten, um sich anderswo ein neues, aber nicht notwendigerweise besseres Leben aufzubauen.
    Wie dem auch sei, Frau de Bilde hatte ihren Mann zeitlebens geliebt, sie hatte den Schubkarren weder verbrannt noch in Stücke gehackt, sie hatte ihn als kostbare Erinnerung gehegt und gepflegt und im Schuppen an einen Haken gehängt, wo er vor Fäulnis geschützt war. Nur die Zeit ging an ihm vorbei, wie an einem von einer Lawine verschütteten Kind, das nach Jahrhunderten noch gänzlich unversehrt gefunden wird; seine Kleidung ist inzwischen aus der Mode gekommen, aber der Ausdruck von Schrecken und Überraschung auf seinem Gesicht ist auch nach zweihundert Jahren noch genauso frisch wie am ersten Tag.
    Ich fühlte ein Brennen im Hals wie bei einer plötzlich einsetzenden Grippe und hatte das starke Bedürfnis, mir die Nase zu putzen oder wenigstens mein Gesicht hinter einem Taschentuch zu verstecken. Im Nachbargarten wurde wieder gelacht und gesungen. Es war, fiel mir jetzt ein, die Melodie von »Riders on the Storm« von The Doors. Dass gerade jetzt ein Betrunkener das Lied eines Mannes sang, der schon Jahre tot war, konnte kein Zufall sein, und plötzlich fühlte ich eine tiefe Erschöpfung. Es war eine Erschöpfung von Tagen oder vielleicht von Wochen, die ich bis zu diesem Abend verdrängt hatte, die sich jetzt aber mit aller Gewalt breitmachte und mich durch den Betonfußboden in den darunterliegenden Sumpf drücken wollte.
     
    »Und?«, rief meine Frau vom Balkon, als ich wieder zum Vorschein kam.
    Ich sah durch meine brennenden Augenlider zu ihr hoch; weil die Ränder meines Blickfelds nicht mehr ganz scharf waren, erinnerte sie mich, wie sie da fast kokett an der Balkonbrüstung lehnte, an eine lang zurückliegende Zeit oder mehr noch an einen absichtlich an dieser Stelle montierten Flashback aus einem Film. David war mir vorausgegangen und stand schon an der Tür.
    Wie bei einem ausgeklügelten Kameraschwenk ließ ich meinen Blick über den ganzen Garten wandern, von der Tür zum Zaun und weiter an der meterhohen Hecke entlang bis zur gepflasterten Terrasse direkt gegenüber dem Schuppen. Sie war mit gewöhnlichen Platten verlegt und etwa zwei mal drei Meter groß. An manchen Tagen hatte ich Frau de Bilde hier im Sommer im Schatten des Pflaumenbaums sitzen sehen, auf dem Tisch eine Kanne Tee. Mein Blick ging weiter an dem immergrünen weihnachtsbaumartigen Baum vorbei, dessen Namen ich nicht kannte, bis zu der Stelle, wo ich mich befand, und dann am Schuppen vorbei bis zum länglichen Blumenbeet, wo der Hund vorzugsweise seine Notdurft verrichtete.
    Ich hatte den Garten bisher nur aus einer ganz anderen Perspektive gesehen, vom Balkon aus. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte angestrengt, das Heute über die Vergangenheit zu schieben, aber schon bald wusste ich nicht mehr, welche Vergangenheit ich eigentlich meinte, ganz zu schweigen von dem Heute.
    Schließlich hob ich den Kopf und sah zu meiner Frau hoch.
    »Nichts«, sagte ich.
    Mit gesenktem Kopf ging ich durch den Garten zurück zur Tür, wo mein Sohn auf mich wartete.

8
    »Vielleicht solltest du die Frage ein ganz klein wenig anders formulieren«, sagte Max; wir saßen uns an einem Fenstertisch im Bistro Delcavi in der Beethovenstraat gegenüber und hatten beide ein Bier vor uns, meines war schon fast leer, während bei Max die Schaumkrone gerade erst in sich zusammenfiel.
    Nachdem wir uns über dieses und jenes unterhalten hatten (das Wetter in Odessa, das Wetter auf Menorca, wie geht’s Christine / Sylvia?), war ich gleich zur Sache gekommen. Max war genau eine Dreiviertelstunde zu spät im Delcavi aufgekreuzt, hatte es aber nicht für nötig befunden, sich zu entschuldigen; gerade noch rechtzeitig hatte ich den Impuls unterdrücken können,

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