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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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der Geschichte vom Topf eine gemeinsame, kostbare Erinnerung aufgefrischt, und machte mich dann daran, ihr den Gnadenstoß zu versetzen. »Das bringt mich noch auf eine andere Sache, Titia … Gestern konnten wir den Schlüssel zur Wohnung deiner Mutter auf einmal nicht mehr finden. Keine Ahnung, aber vielleicht hat die Freundin meines Sohnes ihn aus Versehen mitgenommen, oder er liegt einfach irgendwo rum, jedenfalls haben die Tiere seit gestern kein frisches Wasser mehr gekriegt … Aber du hast doch einen, nicht?«
    Ich bückte mich und griff nach der Plastiktüte, was sie ohne Weiteres geschehen ließ. »Wenn du mir so lange deinen gibst, dann bringe ich den Topf nachher rein. Ich gebe dir den Schlüssel beim nächsten Mal zurück.« Ich hatte die Tüte jetzt in der linken Hand, die andere hielt ich ihr offen unter die Nase, während ich sie ermutigend anlachte. »Den Schlüssel, Titia …«, sagte ich etwas strenger als beabsichtigt.
     

    Am Montagabend saßen wir zu dritt am Küchentisch; meine Frau hatte Spaghetti alla carbonara gekocht. Frau de Bildes Hund lag im Flur vor der Wohnungstür, alle viere von sich gestreckt, den Kopf mit ausgeklappten Ohren auf dem Boden. Ab und zu gab er ein klägliches Piepsen von sich.
    »Er vermisst sein Frauchen«, sagte Christine.
    Ich sah sie an, aber sie schien es bei dieser einen Bemerkung belassen zu wollen. Ich schenkte mir aus der Rotweinflasche nach und hielt sie dann über Davids Glas, der bisher wie immer nur Cola getrunken hatte. Er schüttelte den Kopf.
    »Wenn ich es mir so überlege«, sagte meine Frau und legte die Gabel hin, »weil die Gehhilfe nicht mehr da ist, nehmen wir alle an, Frau de Bilde ist einkaufen gegangen, aber ohne den Hund mitzunehmen. Was eigentlich schon sehr merkwürdig ist, das tat sie nie. Und heute Nachmittag war ich unten, um dem Wellensittich und den Meerschweinchen Futter zu geben, und da lagen in der Küche auf der Anrichte hinter der Tüte mit dem Futter ihre Schlüssel. Ich meine, man geht doch nicht ohne Schlüssel aus dem Haus!«
    Ich starrte sie an; ich hätte natürlich sagen können, dass jeder irgendwann mal seine Schlüssel vergisst, vor allem eine alte Frau mit Alzheimer, aber ich beschloss, erst einmal die Überlegungen meiner Frau abzuwarten.
    »Das ist tatsächlich sehr merkwürdig«, sagte ich. »Und vielleicht noch merkwürdiger ist, dass die beiden Polizisten, die hier waren, sich darum gar nicht gekümmert haben. Ich meine, angenommen, ihr ist irgendwo im Viertel schlecht geworden …«
    Ich wusste auf einmal nicht mehr weiter, was natürlich damit zusammenhing, dass mir die Wirklichkeit, eigentlich zum ersten Mal seit unserer Rückkehr, in die Quere kam. Jemand, den man gewaltsam aus seiner Wohnung entfernt, hat in der Regel keine Zeit, seine Schlüssel einzustecken, hätte ich am liebsten gesagt, oder sich die abscheulichen blauen Pantoffeln anzuzie hen, von der Gehhilfe ganz zu schweigen – ja, es wäre eine große Erleichterung, zumindest den Mitgliedern meiner Familie reinen Wein einzuschenken, aber es war mir auch klar, dass ich erst mit Max sprechen musste: Ich tappte ja selbst noch völlig im Dunkeln über das, was sich tatsächlich zugetragen hatte.
    »Genau«, sagte meine Frau. »Das ist es ja gerade. Die Polizei interessiert es natürlich nicht, Straßenräuber und Messerstecher spazieren in dieser Stadt nach ein paar Stunden auch schon wieder frei herum, aber ich habe das komische Gefühl, dass es Frau de Bilde überhaupt nicht auf der Straße schlecht geworden ist …«
    Fast hätte ich den Wein verschüttet. »Oh ja?«, brachte ich heraus. »Was dann?«
    »Ich weiß nicht … Aber es kommt mir fast so vor, als hätte sie das Haus gar nicht verlassen.«
    David rülpste und legte die Gabel auf seinen leeren Teller. »Vielleicht liegt sie im Schuppen. Vielleicht hat man sie erwürgt und dann in den Schuppen geschafft.«
    »David!«, rief meine Frau.
    Mit einer Mischung aus Staunen und Bewunderung betrachtete ich meinen Sohn. Mit seinen vierzehn Jahren war er in all seiner Unschuld der Wahrheit näher gekommen, als er ahnte. Im nächsten Moment fühlte ich mein Gesicht heiß werden, ich hatte überall gesucht, nur nicht im Schuppen – aller Wahrscheinlichkeit nach hatte überhaupt niemand einen Blick in den Schuppen geworfen: die aufgeblasene Sau nicht und die nicht gerade hellwach aus den Augen guckenden Polizisten schon gar nicht.
    Überraschenderweise hegte ich auf einmal die Hoffnung, Frau de Bilde

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