Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
Vom Netzwerk:
würde tatsächlich mit einer Vorhangschnur um den Hals im Schuppen liegen. Mit einer Leiche konnte die Polizei zumindest etwas anfangen, und was vielleicht noch wichtiger war: Nach der Beerdigung konnte auch mitder Trauerarbeit begonnen werden, und wir könnten noch vor Herbstanfang in unserem eigenen Garten sitzen.
    »Ja!«, sagte ich vielleicht etwas zu begeistert. Ich schlug meinem Sohn auf die Schulter. »Sollen wir gleich mal nachsehen?«
    »Fred!«, sagte meine Frau.
    Ich stand auf und nahm den Schlüssel vom Haken neben der Küchentür; ich zwinkerte Christine zu, aber sie guckte sofort weg.
    »Kommst du mit?«, sagte ich zu David.
    Im Flur stieg ich über den Hund hinweg, der noch immer ausgestreckt auf dem Boden lag und schwermütig vor sich hin starrte.
     
    Der Schuppen war ziemlich überwuchert von einer mir unbekannten Kletterpflanze, wir hatten einige Schwierigkeiten, die Tür aufzukriegen. Die Zweige hatten sich auch durch die Löcher und Spalten im Dach einen Weg nach innen gebahnt. Während mir das Wort Asbestdach durch den Kopf ging, nahm ich alle meine fünf Sinne zusammen. War irgendwo ein Fliegenschwarm zu hören? Roch es nach Verwesung? Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie Verwesung roch. Kurzum, deutete etwas darauf hin, dass uns eine schreckliche Entdeckung erwartete?
    Die Dämmerung brach herein, und aus den Nachbargärten drang Gelächter, Grillgeruch wehte zu uns herüber. Wir waren in Frau de Bildes Wohnung so schnell wie möglich, ohne Licht zu machen, durch den Flur und die Küche gegangen. »Ach du meine Fresse!«, hatte David gesagt und sich die Nase zugehalten. Tatsächlich war der Gestank von ungenügend ventilierten Kamelställen in den vergangenen Tagen eher stärker als schwächer geworden, er hatte eine solche Konzentration erreicht, dass es einem den Blick trübte, wenn man zu tief einatmete.
     
    Einmal im Garten, hatten wir die Tür sorgfältig hinter uns geschlossen und nach Luft geschnappt, als wären wir durch einen geheimen, mit Brackwasser gefüllten Tunnel gekrochen und hätten endlich das Tageslicht erreicht – und so wie bei einem echten Abenteuer, dessen Ausgang ungewiss ist, hatten wir einander ermutigend zugenickt.
    David war ziemlich aufgeregt, ich konnte mich nicht entsinnen, wann ich ihn zum letzten Mal so erlebt hatte – jedenfalls in meiner Gegenwart.
    »Was ist?«, fragte er.
    »Wieso?«
    »Ich weiß nicht … du müsstest das Grinsen auf deinem Gesicht sehen … als ob …« Er schüttelte den Kopf.
    »Als ob was?« Ich verfluchte mich wegen meines dummen Grinsens, das offenbar meinen Gemütszustand widerspiegelte; aber es stimmte, ich grinste tatsächlich. Ich grinste, weil ich froh darüber war, dass mein Sohn und ich endlich wieder einmal etwas zusammen unternahmen.
    »Als wüsstest du, was wir da drin finden«, sagte David und zeigte auf den überwucherten Schuppen hinten im Garten.
    Eigentlich hätte ich ihm jetzt am liebsten zugezwinkert, wie ein Vater das macht, der dabei ist, seinen Sohn in die großen Rätsel des Lebens einzuweihen, aber zu meinem Bedauern hatte ich keinen blassen Schimmer, was uns erwartete.
    Es gab sozusagen nichts, was ich als Vater meinem Sohn weitergeben konnte. Ich stand mit leeren Händen da.
    »David …« Ich streckte die Hand aus.
    Ich weiß nicht mehr, was ich ihm in dem Moment sagen wollte. Jedenfalls hatte ich das starke Bedürfnis, ihm alles zu erzählen, angefangen mit Max und mir auf dem Klo des Erasmus-Gymnasiums, über unseren Französischlehrer bis zur Wiederbegegnung in der Pause von Deep Impact. Ich war mir sicher, mein Sohn würde alles verstehen, wennich ihm die ganze Geschichte in der richtigen Reihenfolge und in aller Ruhe erzählen würde. Außerdem würden wir von dem Moment an ein Geheimnis teilen. An Geburtstagen und während der endlos langen Mahlzeiten bei den lahmarschigen Verwandten würden wir einen Blick des Einverständnisses wechseln. Wir wissen etwas, was ihr euch in euren kühnsten Träumen nicht vorstellen könnt, würde der Blick sagen, und wie verabredet würden wir unsere Teller hinhalten, um uns von Yvonne noch einen Nachschlag ihrer ungenießbaren Dessertkreation geben zu lassen. Davids hyperaktive Großeltern würden sich bei ihm nach seinen schulischen Fortschritten erkundigen, und er würde mir wieder einen Blick zuwerfen und gelangweilt antworten, wusste er doch, dass nichts, was er in der Schule lernte, es jemals mit dem aufnehmen konnte, was ihm inzwischen über das wahre Leben zu

Weitere Kostenlose Bücher