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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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den Bergen hausenden Tiers.
    »Wissen Sie, wo das liegt? Es liegt nicht weit von der Grenze zu Al …«
    »Du musst nicht die ganze Zeit Sie zu mir sagen«, unterbrach ich sie. »In eurer Kultur habt ihr vielleicht Respekt vor älteren Menschen, aber ich bin nur alt. Vor mir braucht man keinen Respekt zu haben.«
    Sie legte den Kopf noch schiefer, vor meiner Nase baumelte ein Ohrring, der aus mehreren Gliedern und Perlen bestand.
    »Haben Sie einen Atlas?«, fragte sie.
    Sie verschwand und kam nach einer Weile mit einem Atlas und einem Becher frischem Tee zurück.
    Vom restlichen Nachmittag ist mir nur noch ihr Mittelfinger in Erinnerung, der sich über die Karte von Nordafrika bewegte, der auf jede einzelne Stadt zeigte; an ihren Fingern trug sie einen oder mehrere Ringe aus roten Korallen und winzigen Spiegeln, die wie Diamanten funkelten, nur derRing aus geflochtenem Gold an ihrem Mittelfinger war ganz ohne Verzierung. Ihre Eltern wohnten in Nador und zwei ihrer Brüder in der Küstenstadt Al-Hoceima; dann hatte sie noch einen Bruder in Amsterdam. Ihr Heimatort mit dem unaussprechlichen Namen war natürlich nicht auf der Karte zu finden, sie zeigte mir, wo er ungefähr lag. Ich konnte die Augen kaum noch aufhalten, und es fiel mir immer schwerer, ihrem über die Karte huschenden Finger zu folgen. Aus dem Ausschnitt ihres violetten TShirts stieg der Geruch von Holzkohle und frisch gepressten Apfelsinen auf. (Später, als sie schon längst gegangen war, habe ich noch an der Bettdecke gerochen, wo sie gesessen hatte, und auch noch an der Karte von Marokko, aber der Geruch von Holzkohle und Apfelsinen war verflogen.) Das Letzte, woran ich mich erinnere, waren ihre Hände, die mir den Becher abnahmen und auf den Nachttisch stellten. Als ich die Augen wieder öffnete, stand die Sonne schon tief über den Dächern auf der anderen Straßenseite; es war still im Haus, kein Staubsaugergeräusch, kein klatschender Aufnehmer störten die Ruhe.
    Ansonsten war ich, wenn Fatima putzte, wahrscheinlich immer aus irgendeinem Grund nicht zu Hause, denn ich kann mich nicht erinnern, sie vor den Sommerferien noch einmal gesehen zu haben. Und jetzt war sie also etwas länger in Marokko geblieben. So what? Es gab mehr Putzfrauen, die den Schmutz der Welt aufwischen konnten; die Chilenin meiner Schwägerin zum Beispiel, die ich in der Wohnung bei der Arbeit gesehen hatte. Oder besser gesagt: Ich hatte einmal miterlebt, wie sie am Esstisch eine Tasse Kaffee nach der anderen trank und in nahezu unverständlichem Holländisch die Katastrophen schilderte, die ihren nächsten Angehörigen in Santiago de Chile zugestoßen waren. Es waren eigentlich zu viele für eine einzige Familie, aber die chilenische Putzfrau wusste verdammt gut, welche Saite man bei Yvonne anschlagen musste.
     
    Yvonne lauschte mit feuchten Augen und schüttelte immer wieder den Kopf, als die HIV -positiven Söhne, unschuldig inhaftierten Neffen und die Nichten mit extrauterinen Schwangerschaften vor ihrem inneren Auge vorbeizogen. Zu Weihnachten bezahlte sie ihrer Putzfrau den Flug nach Hause, es sei doch alles »himmelschreiend«, sagte sie und wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln. Ich hatte sie stark im Verdacht, sich klammheimlich über ihr adoptiertes Dritte-Welt-Drama zu freuen, es reduzierte das Leid der Welt auf einen einzigen überschaubaren Fall, das gute Gewissen ließ sich mit ein paar Scheinen kaufen, über das restliche Elend brauchte sie sich von nun an nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. »Ich bin einfach froh, dass ich wenigstens etwas tun kann«, sagte sie allen, die es hören wollten, wobei sie so ganz nebenbei durchblicken ließ, dass alle anderen nichts taten.
    Dieser Kummerkasten auf zwei Beinen könnte doch vielleicht die Parterrewohnung putzen. Da Christine auch sehr empfänglich für dergleichen war, würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie auch an unserem Kaffeetisch ihre Familiensaga epischen Ausmaßes ausbreiten würde.
    »Ich helfe dir«, sagte ich vorschnell zu meinem Schwager. »An einem Nachmittag haben wir das ganze Zeug weggeräumt. Sag nur, was wir machen müssen.«
    Er hatte seinen Drehtabak zum Vorschein geholt und fuhr mit der Zungenspitze am Blättchen entlang. Er ließ sich alle Zeit der Welt, die ganze Problematik der Wohnung auf sich einwirken zu lassen; offensichtlich genoss er es, dass ich ihm widerstandslos das Feld geräumt hatte. Seine Körperhaltung war schon jetzt die eines

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