Odessa Star: Roman (German Edition)
aufzuwiegen.
Davor hatte sie immer die Augen niedergeschlagen, wenn unsere Blicke sich trafen, oder sie hatte das Zimmer verlassen, sobald ich hereingekommen war. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, dass sie mich nicht im Verdacht hatte, etwas mit dem rätselhaften Verschwinden von Frau de Bilde zu tun haben, aber mit ihrer naiven Intuition, um es einmal so zu nennen, hatte sie vielleicht Zusammenhänge erfasst, die gewöhnlichen Sterblichen, meine Frau und die beiden von der Kripo einbegriffen, einfach völlig undenkbar erschienen waren. Nathalie wohnte noch bei ihrem Vater und dessen neuer Freundin am Stadionweg in Amsterdam Zuid, und als ich sie an einem Abend, an dem es sehr spätgeworden war, mit dem Auto nach Hause brachte, ertappte ich mich dabei, dass ich mir die Hausnummer einprägte und hinter welcher der vier Türen sie verschwand.
Eine knappe Woche später gab ich Max diese Information weiter; wir saßen auf der Terrasse des Wildschut am Roelof Hartplein, an einem der letzten schönen Herbsttage des Jahres.
»Sie wohnt eigentlich bei dir um die Ecke«, sagte ich.
Max stellte seine Bacardi Cola hin und sah mich an. »Wovon redest du?«, fragte er.
»Wieso …?«, setzte ich an, doch etwas in seinem Blick sagte mir, dass ich seine Geduld heute besser nicht strapazieren sollte. Er war damals schon ziemlich nervös und schnell irritiert – nicht zu Scherzen aufgelegt, nannte er das. »Ich bin heute nicht zu Scherzen aufgelegt«, sagte er dann lachend, und das war für seine Umgebung, insbesondere für Richard H., das Signal, ihn nicht mit allzu komplizierten Fragen zu belästigen. In Lokalen setzte er sich ganz nach hinten, mit dem Rücken an die Wand, an einen Platz, von wo aus er die Tür im Auge behalten konnte.
Auf meine Frage, ob er sich vor irgendetwas Konkretem fürchte, zuckte er die Achseln. »Es gehört einfach dazu«, sagte er. »Ein Stierkämpfer wendet doch auch nicht dem Stier den Rücken zu.«
An jenem Nachmittag auf der Terrasse des Wildschut schossen seine Augen ständig hin und her. Mit dem Daumen rieb er nervös über das Display seines Handys.
»Wovon redest du?«, wiederholte er. »Was soll ich mit dieser Information anfangen?«
»Gar nichts«, sagte ich schnell. »Ich dachte nur …«
»Du gibst mir die Adresse der Freundin deines Sohnes. Manchmal frage ich mich wirklich, ob es dir in deinem Oberstübchen noch ganz gut geht.«
Wenn Max besserer Laune gewesen wäre, hätte ich ihmvon dem Vorfall im Speisesaal von Menorca erzählt, als Nathalie in Tränen ausbrach, weil sie fand, ich rede so zynisch über Menschen. Es war mir etwas mulmig bei dem Gedanken, sie könnte mich gegenüber den Instanzen, die die Ermittlungen nach Frau de Bildes Verschwinden durchführten, als einen Menschen hinstellen, der keinen Respekt vor »dem menschlichen Leben« hat. Andererseits wusste ich manchmal selber nicht, worüber ich mir eigentlich so viele Sorgen machte, denn die Ermittlungen waren seit Monaten »völlig festgefahren«, was in Amsterdam so viel bedeutete wie, dass es niemanden einen Scheißdreck interessierte, was aus meiner Nachbarin geworden war. Um das Thema zu wechseln, erwähnte ich die Lahmarschigkeit der Polizei, insbesondere die unerklärliche Tatsache, dass die zwei Kripobeamten nach ihrem ersten Besuch nie mehr etwas von sich hatten hören lassen.
»Wem sagst du das«, sagte Max. »Es ist eine Schande. Zu welchem Polizeirevier, sagtest du, gehörten sie?«
»Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass sie das überhaupt erwähnt haben …«
»Wie sahen sie denn aus?«
Ich gab ihm eine kurze Beschreibung des Molukkers und seines an Schlaflosigkeit leidenden Kollegen.
»Tommy«, sagte Max. »Tommy Musampa.«
Ich verzog das Gesicht. »Also ich …«
»Das klingt gewaltig nach Tommy Musampa«, unterbrach Max mich. »Patenter Kerl. Völlig in Ordnung. Ein Minderwertigkeitskomplex von hier bis zum Mond und wieder zurück, aber gut, das haben alle, die aus der Gegend da kommen. Nicht jeder kann Starsky sein. Oder Hutch. Und der andere, stotterte der?«
»Er sah vor allem unglaublich unausgeschlafen aus«, sagte ich, um Max irgendwie entgegenzukommen, denn an Gestotter konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern.
»Tommy war früher auf dem Revier in der Warmoesstraat. Danach ist er, glaub ich, an den Rand der Stadt versetzt worden. Sporadisch ist er auch mal auf was gestoßen, aber eher so, wie eine Uhr, die nicht mehr geht, auch zweimal innerhalb von vierundzwanzig
Weitere Kostenlose Bücher