Odice
ausgesprochen, ohne darüber nachzudenken. Sie wusste selbst nicht, ob sie der Wahrheit entsprachen und ob sie über diese magische Nacht hinaus Bestand gehabt hätten. Doch in diesem einen Augenblick hatten sie sich gut und absolut richtig angefühlt. Sie hatte sich in dem Zauber dieser Nacht verloren und Julien hatte sie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Brutal und ohne jede Gnade.
Odice wischte sich unwirsch die Tränen aus den Augen. Sie spielte mit dem Gedanken, sich anzuziehen, sich aus dem Haus zu stehlen und sich unten im Ort ein Taxi zu rufen. Ihre Zimmertür war nicht verschlossen und vermutlich würde man ihre Abwesenheit erst in etwa drei Stunden bemerken, wenn Sada kommen würde, um sie zu wecken. Sie würde einen ihrer Mitarbeiter beauftragen, ihren Wagen zu holen und sie müsste die Gebrüder de Lautréamont nie wieder sehen. Andererseits bestand keine Notwendigkeit, bei Nacht und Nebel zu fliehen wie eine Verbrecherin aus dem Gefängnis. Sie würde dieses Anwesen auch bei Tag hocherhobenen Hauptes verlassen können und ihr Eigentum nicht hier zurücklassen müssen.
Dann fiel ihr Blick auf das Objekt, das auf dem Bett lag. Odice schaltete die Art-Nouveau-Lampe auf ihrem Nachttisch ein, um besser sehen zu können. Es war ein in tiefrotes handgeschöpftes Papier gewickeltes Päckchen mit einer kleinen Karte darauf. Sie nahm das Kärtchen zur Hand. Pour une femme extraordinaire stand da in exzentrisch anmutenden schwarzen Lettern. Was sollte das nun wieder? Mit noch immer fahrigen Handgriffen schälte sie das schmale Buch aus seiner edlen Verpackung. Alice Rahons À même la terre . Das bibliophile Sammlerstück aus dem Antiquariat in Blois.
Dieser Mann gab ihr Rätsel auf. Wie konnte jemand auf der einen Seite so unendlich feinfühlig und aufmerksam und auf der anderen Seite derart rücksichtslos und unsagbar grausam sein? Odice erinnerte sich, dass sie sich schon ganz zu Beginn, bei der Betrachtung seiner Fotografien eine ganz ähnliche Frage gestellt hatte. Und sie hatte sich nicht zuletzt entschlossen herzukommen, weil sie gerade diese spannungsreiche Ambivalenz über alle Maßen gereizt hatte, aus der seine Werke in ihren Augen einen großen Teil ihrer immensen Anziehungskraft bezogen. Sie war hergekommen, um das Geheimnis dieser wundervollen Kunstwerke kennenzulernen, nun war ihr Anspruch kein geringerer, als das Geheimnis ihres Erschaffers zu ergründen. Was hatte diesen wundervollen, zartfühlenden Künstler schon in so jungen Jahren zu dem Zyniker werden lassen, der er war?
Kapitel 13
An diesem Tag ließ man Odice ausschlafen und es war bereits später Nachmittag, als Sada sie in den Salon führte, wo sie von Eric erwartet wurde.
»Pünktlich zur Tea Time«, konstatierte er trocken und bedeutete ihr mit einer knappen Handbewegung in einem der Sessel Platz zu nehmen. Sada servierte schwarzen Tee mit Milch sowie Shortbread und Gurken-Sandwiches auf einer silbernen Platte – alles very British und überhaupt nicht nach Odice’ Geschmack. Von Julien fehlte jede Spur. Eric hatte Sada beauftragt, den Ballon diesmal noch weiter aufzupumpen und so wusste Odice kaum, wie sie sitzen, geschweige denn, wo sie ihren Tee unterbringen sollte. Als er sie dann auch noch nötigte, eine zweite und eine dritte Tasse zu trinken, ahnte Odice Schreckliches. Er verbot ihr zu sprechen oder sich von ihrem Platz zu erheben, solange er seine Figaro -Ausgabe studierte und seine Cohiba paffte. Schweigend saß sie ihm gegenüber und hatte nichts anders zu tun, als auf ihren Körper zu lauschen. Selbstverständlich machte sich schon nach kurzer Zeit auf unmissverständliche Weise ihre Blase bemerkbar. Zuerst versuchte Odice, den Druck weiterhin zu ignorieren und sich durch leichte Positionsänderungen und gezielte Beckenbodengymnastik Entlastung zu verschaffen, doch schließlich war der Druck so groß, dass sie ein peinliches Unglück befürchtete.
»Dürfte ich bitte die Toilette aufsuchen, mon seigneur ?« bat sie höflich, doch zu ihrer völligen Empörung verneinte Eric mit ruhiger Stimme.
Ein paar Minuten später wandte sich Odice mit dem gleichen Anliegen nochmals an ihn, diesmal schon deutlich drängender, doch Eric verweigerte es ihr erneut.
Nach einer dreiviertel Stunde standen Odice die Schweißperlen auf der Stirn und ihre Blase stand kurz vor dem Bersten.
» S’il vous plaît, mon seigneur «, flehte sie innständig und diesmal erhöhte Eric ihr Bitte, legte den Figaro beiseite und gestattete
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