Odins Insel
Sie öffnete wieder das Buch, blätterte einige Seiten um und fand dann das, wonach sie suchte. »Die Schwerkraft ist eine verhältnismäßig schwache Kraft« , las sie. »Sie hat jedoch zwei besondere Charakteristika: Sie wirkt über weite Abstände, und sie wirkt immer anziehend. Diese Charakteristika zusammen können die Schwerkraft sehr stark machen, so wie die Schwerkraft, die die Erde in ihrem Kreislauf um die Sonne hält.« Sie machte eine Pause und sah den Fischer an. Er nickte. »Doch obwohl die Schwerkraft immer anziehend wirkt, kollabiert das Universum nicht. Also müssen zusammenziehende oder abstoßende Kräfte anderer Art als die Schwerkraft im Spiel sein.« Sie sah von dem Buch auf. »Irgendwo steht auch etwas davon, dass das Universum nach dem Urknall noch immer expandiert. Man könnte sich vielleicht vorstellen, dass verschiedene Orte des Universums, ja, vielleicht der Erde selbst, sich in verschiedenen Stadien dieser Entwicklung befinden, und dass an verschiedenen Orten eine unterschiedliche Schwerkraft herrscht…« Ihre Stimme brach unsicher ab, und sie standen sich eine Weile schweigend gegenüber.
»Es ist bestimmt nicht einfach«, murmelte schließlich der Fischer. »Wir sollten uns vielleicht besser auf den Seeweg konzentrieren. « Er räusperte sich. »Wir haben noch einmal die alte Karte von den Klippen studiert, die uns unser Großvater und unser Vater hinterlassen haben. Wir haben noch immer keinen Hinweis auf die Einfahrtsroute gefunden, aber uns ist aufgefallen, dass unser Großvater die Route ja von der Insel aus gefunden hat.
Man könnte sich also denken, dass es leichter ist, von der Insel fort- als zu der Insel hinzukommen.«
»Das hilft uns nicht viel, da wir uns nicht auf der Insel befinden«, sagte Sigbrit Holland und verlor plötzlich allen Mut. »Aber das, was du sagst, macht meine Schwerkrafttheorie zunichte. Ja, das tut Odins Anwesenheit im Grunde genommen auch.« Sie ließ die Finger an der Reling entlanggleiten. »Denn wie soll ein Mensch in zwei verschiedenen Schwerkräften existieren können? «
»Das ist schon möglich«, der Fischer zuckte mit den Schultern. »Es könnte doch wie mit den Höhenunterschieden sein, dünne und dicke Luft, hohe und niedrige Schwerkraft. Was wissen wir schon?«
»Aber wenn die Schwerkraft stark genug ist, um Flugzeuge abstürzen zu lassen, erfordert es doch eine besondere Konstitution, um dort zu leben.« Sie schwieg und sah den Fischer nachdenklich an. »Wenn das so ist, dürfte es möglicherweise schwer für dich werden, mit Odin zurück zu der Insel zu reisen«, sagte sie.
»Was lässt dich glauben, dass wir das vorhaben?«
»Das ist gleichgültig. Aber ich habe Recht, nicht wahr?«
Der Fischer Ambrosius ging zu der gegenüberliegenden Reling und sah zu dem dunklen Hügel auf der Insel hinüber.
»Wir wissen nicht, ob es das ist, was wir am liebsten wollen«, sagte er nach einer Weile. »Aber das hat keine Bedeutung, denn genau das müssen wir tun.«
Sigbrit Holland war dem Fischer gefolgt. Sie betrachtete die funkelnden Spiegelbilder der Sterne in den rollenden Wellen und ließ ihren Blick auf der Insel Grinde ruhen.
»Gibt es eine Möglichkeit, sein Schicksal zu ändern?«, fragte sie leise, ohne den Kopf zu drehen.
»Nein.« Der Fischer Ambrosius schüttelte langsam den Kopf und fügte fast unhörbar hinzu: »Aber es könnte schon sein, dass ein anderes Schicksal wartet, wenn man das erste hinter sich hat.«
Am nächsten Morgen unternahmen sie noch einen Versuch. Aber der Eremit jagte sie zurück an Bord der Rikke-Marie, bevor sie die andere Seite des Hügels erreicht hatten. Es war offensichtlich, dass er sie aus der Ferne beobachtete. Und es war mehr als offensichtlich, dass er nicht bereit war, sie näher kommen zu lassen. Sie konnten nur warten, ihren Proviant rationieren und natürlich ihre Suche nach den auf der Insel herrschenden Kräften fortsetzen.
Doch mit ihrer Suche nach etwaigen physikalischen Besonderheiten auf der Insel hatten sie nicht mehr Glück als mit Harald Adelstensfostre. Sie gingen eine Reihe der Theorien durch, die zum Bermudadreieck aufgestellt worden waren, kamen aber nicht weiter; die Hypothesen passten nicht zu dem, was sie von der Insel wussten. Atmosphärische Löcher oder Luftbeben hätten auch außerhalb des begrenzten Luftraums über der Insel messbar sein müssen. Flutwellen oder unterseeische Beben waren nie in der Meerenge oder den benachbarten Meeren beobachtet worden. Erdstrahlung
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