Odins Insel
tiefen Spalten und zerfetzten Ecken aus dem Meer erhoben, und überlegte, ob das wohl die seltsamen Klippen waren, die König Enevold IV. in seinem zweiten Tagebuch beschrieben hatte. Vielleicht, aber sie waren zu hoch und standen zu dicht beieinander, als dass man etwas hinter ihnen hätte erkennen können. Wäre nur die kleinste Kleinigkeit zu sehen gewesen, hätte sie der eine oder andere sowieso längst entdeckt. Die Yacht näherte sich der nördlichsten Spitze der Klippenformation, und die Königin legte enttäuscht das Fernglas zur Seite. Der Kapitän hatte Recht gehabt: Es gab wirklich nicht das kleinste Anzeichen dafür, dass sich hinter den Klippen eine Insel versteckte.
Aber was war das? Einen Moment hatte die Königin den Eindruck, dass die Klippenreihe merkwürdig anschwoll, nur um im nächsten Moment wieder so auszusehen wie zuvor. Sie bat den Kapitän, die Yacht zu wenden, und hob erneut das Fernglas vor die Augen. Da war es wieder – eine kurze Sekunde sah es aus, als würden die Klippen in der Mitte dicker wie ein Schiff. Dann war der Augenblick vorbei, und die Klippen standen wieder wie in einer Linie. Die königliche Yacht wendete noch mehrere Male, und schließlich war die Königin sich ihrer Sache sicher: Genau von der nördlichsten Spitze aus konnte man sehen, dass die Klippen eine Ellipse und keine gerade Linie bildeten. Sobald man sich einen Meter nach Osten oder einen Meter nach Westen bewegte, war nur noch eine gerade Linie zu sehen. Selbst wenn die merkwürdige Schwellung nur auf eine Vergrößerung des Klippenvolumens zurückzuführen war, konnte man die Möglichkeit nicht ausschließen, dass sich dazwischen ein kleiner Streifen Land verbarg. Die Königin holte Bleistift und Papier hervor und begann zu zeichnen.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich das grün-orangene Fischerboot bereits seit mehr als einer Stunde draußen auf dem Meer. Die
Rikke-Marie bewegte sich würdevoll die Küste entlang. Die Wärme in dem alten Boot wirkte nicht überzeugend, und der Wind blies durch die Ritzen in den Wänden und entlang der Fensterrahmen. Sigbrit Holland zitterte vor Kälte und verfluchte ihre dünne Kleidung. Sie hatte eine größere Diskussion mit ihrem Mann über den Törn nicht vermeiden können. Sie hatte versucht, ihm zu erklären, wie wichtig es war, dass sie eine Spur von der Insel fanden, aber er wollte oder konnte es nicht verstehen. Sie dürfe nicht einfach der Arbeit fernbleiben, das sei unredlich, hatte er gesagt. Sigbrit Holland wusste, dass er Recht hatte, aber aus dem ein oder anderen Grund war es ihr gleichgültig. Manchmal gibt es Dinge, die man einfach tun muss, hatte sie gesagt. Was bedeutete es eigentlich für die Bank, ob sie da war oder nicht? Ein anderer würde ihre Arbeit tun, und sie hatte ohnehin an den Wochenenden und Feiertagen oft genug gearbeitet, um sich einen einzigen freien Tag verdient zu haben. Als Fridtjof nicht locker ließ, hatte Sigbrit Holland versucht, ihn einzuladen. Aber das wollte er nicht, und schließlich hatte Sigbrit Holland nachgegeben. Oder besser, sie hatte so getan, als würde sie nachgeben. Deshalb war sie auf dem grün-orangenen Fischerboot in ihrer Bürokleidung erschienen.
Sigbrit Holland sah sich im Steuerhaus um: die Topfblumen, die Kerzen in den Portweingläsern, und alle anderen beweglichen Dekorationen waren verschwunden. Nur die Gardinen zeugten noch davon, dass die Rikke-Marie normalerweise nicht hinausfuhr. Der Fremdling saß eingefallen und abweisend in der dunkelsten Ecke des Steuerhauses genau Gunnar dem Kopf gegenüber, der die ganze Zeit nervös vor sich hin murmelte, während Odin auf der Bank stand und eifrig Richtung Horizont spähte. Der Fischer Ambrosius stand stumm und unnahbar am Ruder. Er war den ganzen Morgen ungewöhnlich einsilbig gewesen. Etwas scheint ihn zu bedrücken, dachte Sigbrit Holland, aber sie hatte keine Ahnung, was.
»Da sind sie, da sind sie!« Odin hüpfte auf und ab und zeigte aus dem Fenster.
Und jetzt konnten sie es alle sehen, eine schwache Linie dunkler Schatten am Horizont.
»Ich mag nicht segeln, ich mag überhaupt nicht segeln«, beklagte sich Gunnar der Kopf.
Der Fischer Ambrosius sagte nichts, korrigierte den Kurs nur leicht nach Osten.
Langsam wurden die Konturen der Klippen schärfer.
»Sie sehen aus, als würde der Teufel seine warnenden Finger gen Himmel erheben«, sagte Sigbrit Holland.
»Nähere dich der Insel, und die Hölle bricht los«, knurrte der Fischer mit
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