Odo und Lupus 01 - Demetrias Rache
sträubt sich, Dir dieses Abenteuer zu schildern, das Odo und ich, die Kommissare des mächtigen Königs Karl, im Lande der Sachsen erlebt haben. Kaum glauben wirst Du, dass so Schreckliches geschehen, dass sich so abgrundtiefe Verderbtheit menschlicher Seelen bemächtigen konnte. Knapp sind wir mit dem Leben davongekommen. Nur außergewöhnlichen Umständen ist es zu danken, dass wir jetzt nicht als Leichen in einem sächsischen Moor liegen.
Wie Du weißt, lieber Vetter, hat König Karl, den schon viele den Großen nennen, uns hergesandt, um bei den Sachsen für Recht und Ordnung zu sorgen. Sie gehören ja nun nach langen, blutigen Kämpfen zu unserem Frankenreich, denn seit der Reichsversammlung von Lippspringe im Jahre des Herrn 782 gilt auch bei ihnen unsere Grafschaftsverfassung. Leider hat sich hier in den sechs Jahren, die seither vergangen sind, nur wenig zum Guten gewendet. Viele Sachsen hängen an ihrem alten Irrglauben, beten Wodan, Donar und Saxnot an und betrachten uns christliche Franken als Räuber und Eroberer. Andere, vor allem die Edelinge, wie sich hier die Mitglieder des Adels nennen, haben sich auf die Seite der Franken geschlagen und berauben und knechten die eigenen Stammesgenossen. Wie viele große und kleine Untaten werden täglich auf beiden Seiten verübt! Der Herr Karl hat extra für die Sachsen ein strenges capitulare de partibus Saxonae erlassen, das die härtesten Sondergesetze enthält, die jemals im Frankenreich in Kraft waren. Genützt hat es wenig. Die Unordnung ist nur schlimmer geworden. Kannst Du Dir vorstellen, wie es ist, als Richter in ein Dir fremdes Gebiet, zu Dir feindlich gesinnten Menschen zu reisen?
Doch wozu klage ich! Hatte ich mich, als die Mandatsgebiete verteilt wurden, in denen wir Königsboten tätig werden sollten, nicht sogar freiwillig für die sächsischen Gaue gemeldet? Ich wollte Theofried finden, den irischen Mönch, der in dieser Gegend verschollen war. Erinnerst du dich an ihn, den unerschrockenen Glaubensstreiter? Du hast ihn doch auch einmal kennen gelernt. Er war ein Einzelgänger, ein Außenseiter unter den Missionaren unseres christlichen Glaubens. Er hatte sich aufgemacht, bevor noch das Land in Missionssprengel aufgeteilt war. Allein, nur von wenigen Getreuen begleitet, die sein glühender Eifer mitriss, hatte er es gewagt, in diese schaurigen Sümpfe und Urwälder einzudringen.
„Wer unschuldig ist, der lebt sicher!“, pflegte er Salomo zu zitieren. „Die Jahre der Gottlosen werden verkürzt, die Furcht vor dem Herrn aber mehret die Tage.“
Ich sehe ihn noch vor mir, wie er hier in Fulda von uns Abschied nahm: Hoch gewachsen, doch klapperdürr, mit seinem blassen, ausgezehrten Gesicht und den vom Wachen und Studieren geröteten, immer strengen, starren, von innen glühenden Augen. Der Nordwind blies heftig, ließ seine langen roten Haare flattern und blähte seine Kutte. Ein letztes Mal sprach er zu uns. Seine heisere, raue Stimme kämpfte gegen das Sausen und Brausen. Ich weiß nicht mehr, was er sagte. Ich erinnere mich nur, dass ich gerührt auf seinen Mund blickte. Ganz vorn, sowohl oben als auch unten, fehlten ihm Zähne, jeweils der zweite und dritte rechts. Heidnische Fäuste hatten sie ausgeschlagen. Wie alt mochte er damals sein? Dreiundzwanzig Jahre vielleicht.
Zum Abschied umarmte er uns unter Tränen und segnete uns. Dann warf er den Sack mit seinen Habseligkeiten über die Schulter und ging davon. Seine Gefährten folgten ihm. Es waren drei biedere, wenn auch ganz unwissende junge Mönche, die ihn verehrten und ihn beschützen wollten. Sie trugen handfeste Knüppel bei sich, die sie an Stricken unter den Kutten befestigt hatten, damit er es nicht merkte. Denn jede Gewalt war ihm zuwider.
Ihre Füße patschten durch den Schlamm des Flussufers und sie mussten sich gegen den Wind stemmen. Hinter einer Gruppe von Weidenbäumen, die sich hin- und her bogen, als schüttelten sie die Köpfe über so viel verwegenen Mut, verschwanden die vier.
Sie wurden nie wiedergesehen. Man fand nicht die geringste Spur von ihnen, obwohl unsere Heere danach mehrmals das sächsische Land durchstreiften und allmählich auch Gesandtschaften, Kaufmannszüge und Gruppen von Klerikern und Mönchen folgten. Wer immer sich nach ihnen erkundigte, erhielt keine Antwort. Elf Jahre waren sie nun verschwunden – eine Ewigkeit in unserer Zeit, in der so oft und so schnell gestorben wird.
So hatte ich, offen gestanden, wenig Hoffnung, den langen Iren
Weitere Kostenlose Bücher