Odo und Lupus 04 - Die Witwe
den Boden zu stecken. Ein struppiger Hund habe sie begleitet. Neugierig waren ihr die alten Weiber ein Stück gefolgt, doch nicht weit. Sie waren aber auf der Lauer geblieben und hatten das Mädchen und den Hund gegen Abend zurückkommen sehen. Nun glaubten sie, die Gute habe arme, bedürftige Verwandte besucht und mit den Federn den Weg markiert, um zurückzufinden.
Ein Köhler, der an seinem Meiler stand, gab mir die wichtigste Auskunft. Als ich fragte, ob er den jungen einsamen Jäger bemerkt habe, nickte er.
„Hat er dich angesprochen?“ fragte ich weiter.
„Das nicht“, erwiderte er, wobei er sein geschwärztes Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen verzog. „Er hat hübsch einen Bogen gemacht. War wohl einer von denen …“
„Von denen?“
„Der Bande da hinten … in der Hütte.“
Mit einer Kopfbewegung deutete er in die Richtung, in die ich unterwegs war.
„Eine Bande, sagst du? Was treiben die?“
„Dies und das. Was geht es mich an?“ sagte der Köhler, indem er fortfuhr, Rasenstücke auf seinen Meiler zu häufen. „Und du, Mönch, tust besser daran, dich auch nicht darum zu kümmern. Sonst …“
„Sonst?“
Er machte die Geste des Halsabschneidens.
„Verstehst du jetzt?“
„Wie weit ist es noch bis zu der Hütte?“
„Verschwinde!“ sagte er grob. „Von mir erfährst du nichts. Kehr um … oder mach, daß du weiterkommst!“
Ich tat das letztere, doch ich kam nicht mehr weit.
Plötzlich steckte ein riesiger schwarzer Keiler vor mir den Kopf aus dem Gebüsch. Die beiderseitige Überraschung war groß, aber die meinige schlug gleich in Angst um. Ich rannte davon, so schnell meine Beine mich trugen. Der Urtrieb der Selbsterhaltung riß mich fort. Ich übersprang gestürzte Bäume, fiel in eine Grube, kroch wieder heraus, hastete weiter und stand auf einmal vor einem Abgrund. Als ich mich umwandte, sah ich den Keiler hinter mir. Er schien es allerdings weniger eilig zu haben als ich, denn er war noch ein großes Stück entfernt. Natürlich konnte er sich auch Zeit nehmen, denn wo sollte ich hin? Mein Blick fiel auf einen Ahornbaum, dessen Stamm sich in Brusthöhe teilte. Mit einem verzweifelten Satz warf ich mich in die Gabel. Der Schmerz war groß, und mein fülliger Leib wurde eingeklemmt. Mit den Beinen strampelnd gelang es mir aber, mich etwas zu drehen, so daß ich den nächsten Ast fassen konnte. Ich zog mich hinauf und bekam nun die Füße auf die Gabel. Mit letzter Kraft erklomm ich einen weiteren Ast. Auf diesem, zwei Mannshöhen über dem Boden, hinter Zweigen und Blättern versteckt, war ich in Sicherheit.
Zitternd lehnte ich mich gegen den Stamm. Der Schweiß floß in Bächen. Als ich hinunterblickte, stellte ich fest, daß der Keiler mir nicht bis unter den Baum gefolgt war. Zunächst sah ich ihn überhaupt nicht mehr. Doch dann bemerkte ich fünfzig Schritte entfernt eine schwarze Masse im Gestrüpp. Das mußte er sein. Er bewegte sich kaum, nur hin und wieder zuckte er auf. Eine Lanze oder ein Pfeil schien zwischen den Borsten zu stecken. Ich begriff, daß ich vor einem weidwunden Tier geflüchtet war. Ich hätte jetzt wohl hinabsteigen und meinen Weg gefahrlos fortsetzen können.
Doch welchen Weg? Ich hatte die Spur verloren. Es würde Zufall sein, wenn ich im endlosen Einerlei des Mischwalds eine der bunten Federn wiederfände. Ich war auch so erschöpft, daß ich kaum Hoffnung hatte, an diesem Tag überhaupt noch irgendwohin zu finden. Es war kein angenehmer Gedanke, die Nacht vielleicht mitten im Wald auf einem Baum verbringen zu müssen. Immerhin konnte ich versuchen, zu dem Köhler zurückzufinden und um Nachtquartier in seiner Hütte zu bitten.
Sehr weit konnte die andere Hütte allerdings auch nicht mehr sein. Schon das wenige, was ich erfahren hatte, bestätigte alle meine Vermutungen. Wenn eine Bande dort hauste, wie der Köhler gesagt hatte, mußte es die des Hug sein. Dies war wohl der Stützpunkt, von dem aus die jungen Adalinge ihre Beutezüge ins Sorbenland unternahmen. Nach dem Mord an Irmo war der verwundete Hug von seinen Komplizen hierher geschafft worden, damit er vor Rächern und Verfolgern geschützt war. Die Meinrade, die den Weg kannte oder von dem Hund geführt wurde, mußte ihm, sicher im Auftrage Garibalds, stärkende Speisen bringen. Vielleicht war sie auch geschickt in der Behandlung von Wunden, wie viele Frauen und Jungfrauen. Ob sie wußte oder nur ahnte, warum sie ihrem früheren Verlobten den Weg zu der Hütte weisen
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