Odo und Lupus 04 - Die Witwe
noch etwa hundert Schritte zurück und blieb dann abermals stehen. Der Schmerz pochte jetzt ohne Unterlaß, auch wenn ich still stand. Verzagt sank ich ins Gras.
Im selben Augenblick ließ ein Schrei mich erschauern. Gleich darauf folgte ein zweiter, dann noch ein dritter, der aber viel schwächer war und rasch abbrach. Zu sehen war nichts. Ich befand mich am Ende des Steilhangs, wo nun ein sanfter Anstieg zu jener Höhe begann, die ich erreichen wollte. Unmittelbar hinter einer Wand von Büschen und Bäumen, die sich vor mir erhob, hatte jemand geschrien.
Ich raffte mich auf und hastete vorwärts. Der Fuß war inzwischen so angeschwollen, daß ich ihn nachziehen mußte. Ich drang in das Dickicht vor mir ein und fand mich nach wenigen Schritten von hundert Zweigen und Ranken umarmt, die mich festhielten und mir ins Gesicht schlugen. Wütend zog ich das Messer aus dem Lederbeutel, den ich am Gürtel trug, und bahnte mir eine Gasse. Zwischendurch blieb ich mehrmals stehen, um zu lauschen. Ich hörte aber nichts außer meinem eigenen Aufstöhnen, als mein verletzter Fuß in ein Loch rutschte, wohl den Eingang eines Fuchs- oder Dachsbaus. Ich zog ihn heraus und fiel dabei hin, und nun kroch ich auf allen vieren, wimmernd vor Schmerz und gotteslästerlich fluchend, weiter durch das dichte Gestrüpp. Zweige und Blätter, die ich wegschlug, regneten auf mich herab. Ameisen krabbelten an meinen Armen und Beinen herauf. Die fromme Kahlheit meines Scheitels zog ganze Mückenschwärme an.
Als endlich mein Kopf ins Freie stieß und ich mich aus dem Gestrüpp erhob, mußte ich einem Waldgeist ähneln. Es war aber niemand da, den ich erschrecken konnte. Vielmehr erschrak ich selber.
Ich stand am Rande einer Lichtung, und vor mir erhob sich die Hütte.
Die Tür war offen, doch ich konnte von meinem Standort aus nicht hineinsehen. Bis zur Schwelle waren es nur wenige Schritte. Als ich die ersten beiden getan hatte, hörte ich plötzlich erregte Stimmen. Rasch wich ich zurück ins Gebüsch. Und da kamen auch schon auf der anderen Seite der Lichtung die beiden jungen Kerle heraus, die den Keiler erlegt hatten. Sie hatten wohl auch die Schreie gehört, ihre Last abgeworfen und sich eilends hierher begeben. Nun traten sie in die Hütte ein.
Im nächsten Augenblick hörte ich sie aufbrüllen.
„Er ist tot!“ rief einer. „Sie haben ihn gefunden, die Schufte!“
„Mach den Mund auf, Hug!“ schrie der andere. „Sag etwas, rühr dich! Hug …“
„Laß! Er ist hin. Der sagt nichts mehr.“
Eine Weile rumorten sie drinnen, greuliche Flüche ausstoßend.
„Drei Stiche!“ hörte ich wieder den ersten sagen. „Wer war das?“
„Das werden wir gleich wissen!“ erwiderte der andere. „Das Blut ist frisch. Weit kann er nicht sein!“
„Also sehen wir zu, daß wir ihn einholen!“
„Los!“
Sie kamen heraus und rannten eine Weile auf der Lichtung umher, wilde Blicke um sich werfend.
„Wenn es der Alte war, ist er am Wildbach entlang … bis zur Quelle herauf!“
„Der Alte war es nicht. Sie bewachen ihn.“
„Aber wer sonst …“
„Einer von Rotharis Leuten. Vielleicht sogar einer der Franken. Das waren doch Irmos Herzensfreunde.“
„Du könntest recht haben. In dem Fall ist er vom Rabennest her gekommen.“
„Unmöglich! Da hätten wir ihn bemerkt.“
„Siehst du 'ne Fußspur oder irgendwas?“
„Nichts!“
Sie strichen mehrmals hart an mir vorüber. Ihre Reden ließen mich nicht im Zweifel, in welcher Gefahr ich mich befand. Damit sie mich nicht doch noch entdeckten, kam ich auf den unglückseligen Gedanken, mich ein Stück tiefer in das Dickicht zurückzuziehen. Dabei vergaß ich meine Verletzung und trat zuerst auf den linken Fuß.
Der stumme Schmerzensschrei meines verstauchten Gelenks ließ mich taumeln. Ich ergriff einen Zweig, um mich festzuhalten, und brachte ein ganzes Gebüsch in Bewegung.
„Da drüben!“
Mit vier, fünf Sätzen waren sie bei mir.
„Der dicke Mönch!“
„Vorsicht! Er hat ein Messer!“
„Was hab ich gesagt? Ein Franke!“
Sie packten mich und zerrten mich hinaus auf die Lichtung.
„Hört mich an!“ keuchte ich.
„Ah! Willst du vielleicht noch leugnen, du Hund?“
Der größere, ein schwarzbärtiger Schlagetot, riß mich hoch und ließ mir zweimal die Faust ins Gesicht krachen. Dann schleuderte er mich mit aller Wucht gegen die Wand der Hütte. Mit einem Klagelaut fiel ich zu Boden.
Schon war der andere über mir. Immer wieder stieß er mir die harte
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