Ödland - Thriller
sie schließlich ganz aufhört. Wenig später kehren die Hubschrauber zurück. Wieder zerhacken sie die neuerliche Stille im Tal.
»Ich glaube, jetzt können wir weiterfahren«, schlägt Rudy vor.
»Bist du sicher?« Lauries Zähne klappern. »Sollen wir nicht lieber noch ein bisschen warten?«
»Worauf warten? Dass wir noch einmal fast ausgenommen werden?«
Er öffnet die Tür und steigt ins Führerhaus. Laurie folgt ihm mit Mühe. Sie ist totenbleich und kann sich kaum auf den Beinen halten. Rudy tut, als bemerke er nichts. Stoisch lenkt er den Lkw durch die Serpentinen.
Nach etwa einem Kilometer umrunden sie einen Felsvorsprung aus Schiefer und erreichen den Ort des Scharmützels. Von Granaten zerfetzte Zedern und Pinien stehen in hellen Flammen. Mitten auf der Straße gähnt ein noch rauchender Krater, auf dessen Grund ein verbranntes Autowrack und der verkohlte Rest einer vage an einen Menschen erinnernden Gestalt liegen. Zwei weitere Fahrzeuge blockieren die Straße. Das eine brennt, aus dem anderen quellen Leichen hervor - unter ihnen ist auch Zaounia, die ihr Gewehr vergeblich in den Himmel richtet. Reifenspuren lassen darauf schließen, dass die anderen Rebellen auf einer steilen Straße in die Berge geflohen sind. Ein großer Teil des Fahrwegs liegt jetzt unter einem von einer Rakete verursachten Bergrutsch verschüttet.
Leise summt die Turbine des Mercedes. Kaum, dass sie die Stille stört, die sich mit dem Nebel wie ein Leichentuch über das Schlachtfeld senkt.
Holocaust-Syndrom
[...] In unseren im Abstieg begriffenen westlichen Zivilisationen haben wir alles Erdenkliche getan, um den Tod unserer Mitmenschen abstrakt und fern erscheinen zu lassen. Wir weigern uns, den Tod zuzulassen und ihm ins Gesicht zu sehen, obwohl die zunehmende Zahl von Katastrophen uns die Auseinandersetzung mit ihm geradezu aufdrängt. Unser übertriebener Individualismus fördert den Glauben daran, dass unsere Toten nicht wirklich tot sind, sondern in einem weit entfernten Land leben, ohne sich mit uns in Verbindung zu setzen. Daher darf man sich nicht wundern, wenn sie unter den ungewöhnlichsten Umständen aus unserer verschütteten Erinnerung wieder auftauchen - als immer wiederkehrende Traumgestalten, als Stimmen am Telefon, als Avatar im Internet ...
Dr. Cornelius Castoriadis
Kommunikation mit Autisten (2029)
»Sehen Sie ihn jetzt im Augenblick?«
Fuller dreht sich um und lässt den Blick durch das makellose Büro des Psychotherapeuten wandern, in dem die Pflanzen so grün sind, dass sie fast künstlich wirken.
»Nein. Normalerweise habe ich diese Visionen ausschließlich zu Hause.«
Dr. Castoriadis hält mit einem enormen, beinahe phallisch anmutenden Füllfederhalter einige Stichworte auf einem bereits weitestgehend vollgeschriebenen Blatt fest.
»Spricht Ihr verstorbener Sohn mit Ihnen? Haben Sie den Eindruck, dass er Ihnen eine Botschaft übermitteln möchte?«
»Eigentlich nicht. Genau genommen höre ich nichts. Ich glaube eher - wie soll ich mich ausdrücken? -, dass er mich beeinflusst.«
»Auf welche Weise?«
»Nach jeder Vision überfallen mich ... nun ja, Gelüste ... sonderbare Ideen.«
Fuller hat große Probleme, sich auszudrücken. Sein Hirn scheint völlig zerfranst zu sein; er kann weder den Blick noch seine Aufmerksamkeit fokussieren. Eigentlich wünscht er sich nur, dass sein Therapeut ihm endlich ein Wundermittel verschreibt, das ihn wieder effizient und leistungsfähig werden lässt. Die allzu persönlichen Fragen stören ihn, wie bei jedem seiner Termine. Dr. Castoriadis' schwarze, durch die getönten Gläser seiner Brille vergrößerten Augen bohren sich forschend in den Blick seines Patienten.
»Mordgelüste, nicht wahr?«, tippt er.
Anthony nickt langsam und widerwillig.
»Gegenüber ihrer Ehefrau?«
»Nicht nur. Gegenüber allen, die mir nicht wohlgesonnen sind oder gegen mich arbeiten. Manchmal hätte ich nicht übel Lust, die ganze Enklave Eudora hochgehen zu lassen.«
»Das dachte ich mir«, nickt der Arzt bedächtig und schreibt erneut etwas auf seinen Block. »Sie träumen von Gemetzel, Massakern und Verwüstung im großen Stil. Diese Störung nennt man das ›Holocaust-Syndrom‹. Sie befällt vornehmlich Leute wie Sie - extreme Individualisten in sehr einflussreicher Position. Sie wünschen sich, in einer finalen Feuersbrunst auf ruhmreiche Weise zu sterben - aber so, dass nichts anderes Sie überlebt. In einem reinigenden Blutbad möchten Sie alles zerstören, was Sie
Weitere Kostenlose Bücher