Ödland - Thriller
verbinden. Sie hat den Ort sofort erkannt. Es ist die Clarice-L.-Osborne-Gedächtniskapelle auf dem Campus der ehemaligen Baker-Universität in Baldwin City. Die kleine Kapelle mit dem Ziegeldach und den schmalen Fenstern, von einer ehemals sauberen, heute jedoch von Brombeerranken überwucherten Steinmauer umgeben, bedeutet ihr sehr viel. Hier hat Pamela in ihrer Jugend viele Stunden verbracht. In der Kapelle wurden Diplome und Zeugnisse überreicht, Studentenabende und Dichterlesungen veranstaltet, und auch Hochzeiten und Gottesdienste fanden hier statt. Pamela ist in Baldwin geboren und hat ihre gesamte Ausbildungszeit in der Stadt verlebt. Zwei Jahre hat sie an der Baker-Universität studiert, ehe das Institut im Jahr 2021 während der Amtszeit von Cornell, genannt »der Schreckliche«, aus Geldmangel schließen musste. Seither ist Pamela nie wieder dort gewesen. Kaum wagt sie sich vorzustellen, was aus den ehrwürdigen, fast zweihundert Jahre alten Gebäuden geworden sein mag, seit sie schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt sind, mit Sicherheit schon mehrfach geplündert wurden und inzwischen womöglich den Outers und Junkies als Zuflucht dienen. Vielleicht ist es doch gut, dass Robert ihr die Augen verbunden hat - zumindest erspart er ihr so, den Sieg der Zeit und des Elends über die Erinnerung an ihre glücklichen Studentenjahre mit ansehen zu müssen.
Bis auf einige Graffiti und zerschlagene Fensterscheiben hat sich die Kapelle kaum verändert. Schon damals wirkte sie irgendwie altmodisch, und so ist es auch geblieben. Pamela erinnert sich noch genau der bewegten Geschichte des Bauwerks. Die Kapelle wurde 1864 im Städtchen Sproxton in Mittelengland erbaut und um 1990 aus Mangel an Gläubigen aufgegeben. Im Jahr 1995 kaufte die Baker-Universität das Gebäude, ließ es Stein für Stein abtragen und per Schiffsfracht und Eisenbahn nach Baldwin City in Kansas transportieren, wo die Kapelle auf dem Universitätsgelände wieder aufgebaut wurde. Eine verrückte Idee in einer Zeit des Überflusses!
Zwischen den verwitterten Baumstümpfen eines ehemaligen, entweder von Tornados heimgesuchten oder von Outers gefällten Wäldchens parken eine Menge Autos. Schweigende Menschen pilgern auf die hell erleuchtete Kapelle zu. Sie tragen lange weiße Roben und Kapuzen, die mit großen roten Kreuzen bedruckt sind. Wie Gespenster in der Dämmerung , denkt Pamela ein wenig verunsichert. Nelson kramt in seinem Köfferchen, holt zwei ordentlich gefaltete weiße Roben hervor und reicht ihr eine.
»Muss das wirklich sein?«, fragt Pamela.
»Unbedingt. Sie sind schließlich erst Novizin und dürfen nicht erkannt werden.«
»Irgendwie erinnert dieser Aufzug mich an den Ku-Klux-Klan.«
»Einige Gründungsmitglieder der Göttlichen Legion stammen tatsächlich aus dem Klan. Allerdings waren die Sichtweisen des Klans zu engstirnig und seine Ziele nicht hoch genug gesteckt. Die Göttliche Legion hat eine ganz andere Tragweite.«
Die letzten Worte spricht Nelson mit einer geradezu fanatischen Bewunderung aus. Resigniert streift Pamela die Robe über. Sie ist zu lang und schleift auf dem Boden. Der Stoff der Kapuze fühlt sich hart an und ist so dick, dass Pamela kaum Luft bekommt. Die Augenschlitze schränken ihr Gesichtsfeld stark ein. Auch Robert hat inzwischen seine Robe angezogen. Sie scheint maßgeschneidert zu sein, denn sie sitzt ausgezeichnet.
»Gehen wir.«
Langsam bewegen sie sich auf die Kapelle zu. Nelson schreitet andächtig voran, die Hände in den weiten Ärmeln seiner Robe verborgen. Pamela stolpert hinter ihm her; immer wieder gerät sie mit dem Saum ihres Gewandes in Konflikt. Etwa hundert Menschen haben sich in der mit Halogenscheinwerfern taghell erleuchteten Kapelle versammelt. Pamela hält Ausschau nach einem freien Platz im Hintergrund, doch Robert nimmt ihren Arm und führt sie vor aller Augen gebieterisch durch den Mittelgang bis ganz nach vorn, wo in der ersten Reihe zwei Plätze frei geblieben sind. Zögernd und ein wenig verwirrt nimmt Pamela Platz. Sie hat das Gefühl, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.
»Sind Sie ganz sicher, dass diese Plätze für uns gedacht waren?«, flüstert sie ihrem Anwalt ins Ohr.
»Selbstverständlich. Schließlich werden Sie heute Abend auf den Thron erhoben.«
»Davon wusste ich ja gar nichts!«
»Was haben Sie erwartet? Einen Bridgeabend?«
Pamela verstummt und gibt sich Mühe, sich ganz klein zu machen. Sie war der Meinung, im Hintergrund an einer Versammlung
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