Ödland - Thriller
lange nicht, dass er auch versteht, was er sieht. Hat er je ›Papa‹ zu Ihnen gesagt? Hat er Ihnen je so etwas wie Zuneigung entgegengebracht oder Sie auch nur erkannt?« Fuller schüttelt den Kopf. »Sehen Sie! Hören Sie auf, sich über Ihren Sohn den Kopf zu zerbrechen, Mr. Fuller. Er spielt in alledem eine ganz und gar untergeordnete Rolle. Sie, und nur Sie allein, sind für Ihren Zustand verantwortlich.«
»Und was soll ich dagegen tun?«
»Ich habe es Ihnen schon hundertmal gesagt: Nehmen Sie sich frei. Machen Sie eine große Reise. Dann kommt alles von ganz allein wieder ins Lot.«
»Aber ich kann nicht verreisen! Meine Geschäfte ...«
»Sie können nicht nur, Sie müssen sogar! Denn sonst bringen Sie eines Tages tatsächlich noch jemanden um.«
Dr. Castoriadis lässt das beschriebene Blatt in seine Hemdtasche gleiten, steht auf und streckt Fuller eine rundliche Hand entgegen.
»Nach Ihrer Rückkehr machen wir einen Termin und ziehen ein Fazit. Ich bin ganz sicher, dass alles sich zum Guten wendet.«
»Einen Augenblick noch, Herr Doktor! Wollen Sie mir denn nichts verschreiben?«
»Sie nehmen doch schon jetzt viel zu viele Medikamente ein. Ich habe Ihnen bereits vor langer Zeit nahegelegt, die Dosis drastisch zu verringern. Sind Sie meinem Rat gefolgt?«
»Aber meine Albträume und Visionen! Was soll ich denn tun?«
»Fahren Sie in Urlaub, Mr. Fuller. Allein schon die Vorfreude ist ein ungeheuer starkes Gegenmittel.«
Sie verabschieden sich mit Handschlag. Die Hand des Therapeuten ist weich und feucht. Zögernd geht Anthony zur Tür. Kurz vor der Schwelle dreht er sich noch einmal um.
»Sie haben mir nicht besonders weitergeholfen, Herr Doktor.«
»Was wollen Sie? Ein Schlafmittel?«
»Zum Beispiel. Jedenfalls möchte ich nicht mehr jede Nacht sterben.«
Der Therapeut kritzelt ein paar Hieroglyphen auf einen Rezeptblock, reißt das Blatt ab und reicht es Fuller mit vorwurfsvoller Miene.
»Bitte sehr. Machen Sie sich ruhig weiter kaputt. Aber Sie wissen, dass ich Ihre Haltung absolut nicht gutheißen kann! Verreisen Sie, Mr. Fuller. In Ihrem Fall ist eine Reise nicht nur notwendig, sondern lebenswichtig.«
Anthony nickt und verlässt die Praxis. Draußen im gedämpften, mit sanfter Musik berieselten Flur seufzt er tief auf und greift mechanisch nach der Packung Calmoxan in seiner Anzugtasche. Dieser dämliche Therapeut mit seinen blöden Theorien über das Holocaust-Syndrom hat ihn ganz schön Nerven gekostet ...
Aus dem Augenwinkel nimmt Fuller eine Bewegung am Ende des Flurs wahr. Hastig hebt er den Kopf und sieht eine verschwommene, magere, schlaksige Gestalt, die im gleichen Moment mit dem Schatten verschmilzt. Sein Herz setzt einen Schlag aus. Nein ... nein, doch nicht hier! Fuller stürzt ans Ende des Flurs. Er will ganz sichergehen, dass er sich geirrt hat - dass er lediglich einen anderen Patienten des Therapeuten oder einen Hausbewohner gesehen hat.
Doch der Gang ist leer. Kein Laut, keine Bewegung ist auszumachen. Lediglich die Musik dudelt leise vor sich hin, und der Rufknopf des Aufzugs blinkt. Schnell, eine Calmoxan! Auch wenn kein Wasser da ist! Dann muss sie eben mit Spucke rutschen!
Die Aufzugtüren gleiten in dem Augenblick auf, als er die Tablette in den Mund steckt. Erst jetzt fällt Anthony auf, dass er den Aufzug nicht gerufen hat.
In der Kabine wartet sein Sohn Wilbur - durchsichtig und ohne Spiegelbild. Er lächelt ihn mit seinen kariösen Zähnen an, fixiert ihn aus farblosen Augen und sagt mit tonloser Stimme:
»Du wirst sterben, Papa!«
Unschuldiges Blut
Und ich sah Throne, und sie setzten sich darauf, und es wurde ihnen das Gericht übergeben; und ich sah die Seelen derer, die enthauptet worden waren um des Zeugnisses Jesu und um des Wortes Gottes willen und die das Tier nicht angebetet hatten noch sein Bild und das Malzeichen weder auf ihre Stirne noch auf ihre Hand genommen hatten, und sie wurden wieder lebendig und herrschten mit Christus tausend Jahre.
Die übrigen Toten wurden nicht wieder lebendig, bis die tausend Jahre vollendet waren. Dies ist die erste Auferstehung.
Selig und heilig, wer teilhat an der ersten Auferstehung! Über diese hat der zweite Tod keine Macht, sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein und mit ihm herrschen die tausend Jahre.
Offenbarung 20, 4-6
Pamela versteht beim besten Willen nicht, warum ihr junger Anwalt Robert Nelson darauf bestanden hat, ihr auf dem Weg zu dem angeblich geheimen Treffpunkt die Augen zu
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