Ödland - Thriller
einer Hand am Gitter hochzuziehen. Die andere hält er bittend durch die Streben und fleht verzweifelt um Hilfe. Sein Hemd ist zerfetzt und in der Magengegend mit Blut getränkt. Schweiß und Tränen haben schmutzige Spuren auf seinem ausgemergelten Gesicht hinterlassen. Schmerz und Todesangst sind deutlich in seinen geröteten Augen zu lesen. Der zweite Verletzte bewegt sich nicht und stöhnt auch nicht mehr. Wahrscheinlich liegt er im Sterben oder ist bereits tot.
»Salah, wir müssen etwas tun. Ich kann das nicht mit ansehen.«
»Aus dir wird nie ein richtiger Soldat.«
Salah legt seine Uzi an, zielt auf den Verwundeten, der ihn aus entsetzt aufgerissenen Augen anstarrt, und drückt ab. Nur ein einziges Mal. Mit zerplatztem Schädel sinkt der Mann ohne einen Schrei oder auch nur einen Seufzer in sich zusammen.
»Salah, bist du verrückt geworden?« Abou ist fassungslos.
»Wenn in der Herde meines Vaters ein Tier krank ist, gehen wir genauso vor. Das Überleben der Herde ist wichtiger als das des Einzelnen.«
»Aber das war keine Kuh! Es war ein Mensch!«
Salah zuckt nur die Schultern.
»Du warst das, der eben in die Menge geschossen hat«, beschuldigt Abou ihn.
»Nein, ich war es nicht. Ich dachte, du wärst es gewesen.«
»Nein. Nie im Leben hätte ich so etwas getan ...«
Sie beobachten sich gegenseitig. Ihre Augen sind nur noch sandige Schlitze. Beide versuchen zu ermessen, wie ehrlich ihr Gegenüber ist.
»Womöglich war es der Hauptmann selbst«, erklärt Salah und rückt den Cheche wieder über seinem Gesicht zurecht. »Wahrscheinlich wollte er den Zwischenfall deswegen verheimlichen.«
»Möglich.«
Doch Abou weiß, dass der Hauptmann es nicht gewesen sein kann - er stand neben ihm und half, das Gitter festzuhalten. Abou weiß tatsächlich nicht, woher die Salve gekommen ist. Er hat sie gehört und hat gesehen, wie die Leute hinfielen - das war alles.
Der Sturm wird stärker. Sandpartikel prasseln schmerzhaft auf jeden Fleck freie Haut. Es ist den beiden jungen Männern nicht mehr möglich, die Augen zu öffnen oder ohne Mundschutz zu atmen. Abou und Salah heben ihre Decke aus dem Staub auf, schütteln sie aus und verbarrikadieren sich darunter - den Rücken gegen den Wind gekehrt, schwitzend und mit juckender Haut, wo sich der Sand unter ihre Kleider verirrt hat. Bald schon rühren sie sich nicht mehr; jede Bewegung wird zur Qual. Selbst denken mögen sie nicht mehr. Der Wind, der sie ohne Unterlass schüttelt, stumpft sogar den Geist ab. Aus halb geschlossenen Augen starrt Abou auf den pudrigen, gelben Staub, der immer neue Formen und Wirbel bildet. Seine Fantasie macht daraus merkwürdige Kreaturen, vergängliche Konstruktionen und geisterhafte Prozessionen.
Er hätte nicht sagen können, wann die Gestalt sich aus seiner Fantasie löste und Realität wurde, wann er begann, sie anzustarren, und wann er sich darüber wunderte, dass sie unbeweglich mitten im Sturm dastand, und zwar innerhalb der Umzäunung. Es ist ein Krieger der Tuareg, schlank und geschmeidig, in den traditionellen Mantel der blauen Männer der Wüste gehüllt, den Takouba-Dolch im Futteral an der Hüfte, die Arme über der Brust gekreuzt, das Gesicht unter einem indigofarbenen Cheche verborgen. Die sandigen Böen lassen ihn von Zeit zu Zeit verschwimmen, löschen ihn aber nie ganz und gar aus. Er mustert Abou mit einem weder freundlichen noch feindlichen Blick, aufrecht und unbeweglich, als könne das Toben der Natur ihm nichts anhaben.
»Salah! Hey, Salah!«
Salah ist, an Abous Schulter gelehnt, eingeschlafen.
»Salah, wach auf! Da ist jemand!«
»Was? Wie?«
»Da drüben. Ein Targi ...«
Blinzelnd bemüht sich Salah, Abous Blickrichtung zu folgen, doch Abou reißt nur noch verblüfft die Augen auf.
Sosehr er sich auch anstrengt - er sieht nichts anderes mehr als Sandwirbel.
»Ich kann nichts entdecken«, gähnt Salah.
»Aber da war jemand. Gerade eben noch!«
»Wer denn?
»Ein Targi. Er stand da und hat mich angesehen, keine fünf Meter von hier entfernt. Er kann doch nicht einfach so verschwunden sein!«
Mit gerunzelter Stirn mustert Salah seinen verstörten Freund.
»Ich habe es dir schon einmal gesagt, Abou - deine Großmutter setzt dir Flausen in den Kopf. Du solltest mit diesen Zaubergeschichten aufhören.«
SECHSTES KAPITEL
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»Mr. Callaghan, Sie stellen die Göttliche Legion als ›Vereinigung von Gläubigen‹ dar, die ›auf Gott vertrauen, um ihre Seele am Tag des Jüngsten Gerichts zu
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