Ödland - Thriller
Richard Fuller III. ist gekommen. Er hat großen Wert darauf gelegt, trotz seiner bereits achtzig Jahre im eigenen Hubschrauber anzureisen und so der Enklave Eudora die Macht seiner Familie zu demonstrieren. Ein unbedeutender Unterdirektor der K-State-Universität, an der Wilbur offiziell eingeschrieben war, ist ebenfalls anwesend; wahrscheinlich hat man ihn geschickt, um eine Unterstützung oder ein Sponsoring zu ergattern. Dann sitzen da noch Rachel, eine bigotte Nachbarin vom Typ Schwarze Witwe, die grundsätzlich keine Trauerfeier auslässt, ein paar entfernte Cousins von Pamela, deren Namen Fuller längst vergessen hat und von denen er sich fragt, was sie eigentlich hier zu suchen hatten, Consuela, die venezolanische Pflegerin von Tony Junior, unterwürfig und unauffällig, wie es sich gehört, und schließlich Tony Junior selbst.
Tony Junior kauert verkrümmt in seinem Rollstuhl, der im Mittelgang steht, und mustert seinen Vater mit grauen, durchdringenden Augen. Anthony wendet sich unangenehm berührt ab. Hat er nicht gerade auf den pergamenttrockenen Lippen ein ironisches Lächeln gesehen? Unmöglich! Junior ist gelähmt, und sein verzerrtes Gesicht kann, wie die Ärzte behaupten, keine Gefühle ausdrücken. Aber er kann sehen, hören und verstehen. Und denken kann er auch.
Tony Junior ist fünfzehn und sieht aus, wie Anthony vermutlich mit achtzig aussehen wird. Er ist schon jetzt verkalkter als sein Großvater, der sich allerdings ausgesprochen gut hält. Sein Körper ist vollkommen gelähmt, bis auf die großen, intensiv dreinblickenden, grauen Augen mit dem malvenfarbenen Rand um die Iris. Junior repräsentiert geradezu die Degeneration an sich, was umso trauriger ist, als sowohl sein Seh- als auch sein Hörvermögen sowie sein Intellekt nicht nur vollendet, sondern sogar überentwickelt sind. Tony Junior ist der missglückte Klon seines Vaters und leidet unter dem Dolly-Syndrom, einer sehr seltenen, genetisch bedingten Krankheit, die ähnlich wie Progeria zu einer beschleunigten Zellalterung führt. Seit dem Alter von fünf Jahren, als man die Krankheit entdeckte, wird er mit modifizierten Stammzellen aus menschlichen Embryos behandelt, eine Therapie, die seine Eltern etwa fünfzehntausend Dollar im Monat kostet. Ungefähr einmal im Jahr kündigt der behandelnde Arzt des Jungen, Doktor Kevorkian, Juniors bevorstehenden Tod an, falls man sich nicht entschließe, ihn einer weiteren, noch kostspieligeren und bisher kaum erforschten Behandlung zu unterziehen. »Verstehen Sie, sein Leben hängt davon ab«, pflegt er zu sagen. Fuller blecht, ohne mit der Wimper zu zucken, doch er sieht, wie sein Sohn sich unerbittlich und unausweichlich in eine lebende Mumie verwandelt, ohne jemals eine sichtbare Verbesserung festzustellen.
Anthony bemüht sich, seinem Sohn so selten wie eben möglich über den Weg zu laufen, denn der einzige Fortschritt, den er beobachtet - ein kaum messbarer, aber dennoch erkennbarer Fortschritt -, ist Juniors verderblicher Einfluss auf seine Umgebung, und zwar angefangen bei Anthony selbst. In Anwesenheit von Tony Junior hat er immer den Eindruck, sich einer Verkörperung des Bösen schlechthin gegenüberzusehen - es könnte der Tod höchstselbst sein, der ihn hinter dem unveränderlichen, geisterhaften Lächeln auf dem wächsernen Gesicht herausfordert, oder etwas grässlich Krankhaftes, das ihm Schauder des Ekels über den Rücken jagt. Nein, schlimmer noch: Schauder des Entsetzens.
Natürlich wurde BioGen Labs - das Labor, das die genetische Auswahl und das Klonen durchführte - zu Schadenersatz und Schmerzensgeld in einer derart exorbitanten Höhe verurteilt, dass Fuller das Unternehmen gleich im Anschluss für einen geradezu lächerlichen Preis erwerben und den Vorstandsvorsitzenden vor die Tür setzen konnte. Der Mann würde nie wieder irgendwo sein Brot finden, dafür hat Fuller gesorgt. Seither wird bei BioGen Labs transgenes Getreidesaatgut für die ärmsten Länder der Welt hergestellt. Es ist billig und erzielt hohe Erträge, wenn auch steril. Alles in allem hat sich der gesamte Vorgang letztlich als so rentabel erwiesen, dass er die Kosten für Tony Juniors genetisch verändertes Leben voll und ganz abdeckt.
Trotzdem fragt sich Anthony noch immer, wie er diesen ungeheuren Fehler begehen konnte. Klar, vor fünfzehn Jahren war er noch jung und voller Schwung, stürzte sich kopfüber in alle technologischen Neuerungen und zögerte auch nicht, Risikokapital einzusetzen. In der
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