Öffne deine Seele (German Edition)
auf den Feldern und im Wald. Wir reden miteinander. Zweimal in der Woche gibt es ein Zusammensein mit dem Meister und einigen ausgewählten älteren Gefährten, das unter einem bestimmten Thema steht. Auch dort gibt es keine Verpflichtung zu erscheinen, doch ich kenne niemanden, der sich das entgehen lassen würde. Wir kommen aus so vielen Richtungen, haben so viele unterschiedliche Ideen – und Marius käme nie auf die Idee, uns etwas auszureden. Jeder hat seinen eigenen Weg. Marius hilft uns lediglich, ihn zu finden.»
Albrecht nickte stumm. Ein Wohltäter der Menschheit.
Ein Wohltäter allerdings, der auch selbst gern die eine oder andere Wohltat in Empfang nahm – angefangen mit diesem eindrucksvollen Gebäude.
«Es geht um das Wachstum», erklärte Sören. «Das Wachstum der Persönlichkeit. Wahrscheinlich sind deshalb so viele junge Leute hier. Weil unsere Persönlichkeit noch nicht ausgeformt ist, wir noch nicht vorgeprägt sind durch Strukturen, die uns in unserem Denken einengen. Ich stelle es mir sehr viel schwieriger vor, wenn man erst später im Leben auf Marius stößt. Doch was muss das für eine Erfahrung sein, wenn man schon ein ganzes Leben hinter sich hat, draußen … wie Dr. Warnecke … oder Folkmar. Und dann findet er zu uns und zu diesen Dingen hier?»
Sören schob das Buch ins Regal zurück.
Albrecht legte den Kopf schief und las den Titel. Schopenhauer.
«Kaum vorstellbar», murmelte er und straffte sich. «Haben Sie meine Mitarbeiterin kennengelernt?», fragte er.
Sören wiegte den Kopf hin und her. «Wahrscheinlich wollen Sie wissen, ob wir sie gestern gesehen haben, ja?»
Albrecht kam nicht zum Antworten.
«Nein», erklärte Sören. «Ich habe auch einige der anderen gefragt, aber gestern ist sie eindeutig nicht noch einmal hier gewesen. Wir haben sie nur ein einziges Mal kurz gesehen: vorgestern, als Frau von Merkatz sie zu Marius geleitet hat.»
«Gehört das zu Frau von Merkatz’ Aufgaben?», hakte Albrecht ein. «Dieses Geleiten?»
Sören lächelte nachsichtig. «Nein, natürlich nicht. Schon weil wir nur ganz, ganz selten Besuch von draußen haben. Also fremden Besuch. Frau von Merkatz ist einfach die älteste Gefährtin des Meisters. Sie kennt ihn sehr lange und …»
«Seine …» Albrecht hob die Hand zu einer vagen Bewegung. «… Gefährtin?»
Sörens Miene verhärtete sich auf der Stelle. «Das gehört mit Sicherheit nicht zu den Fragen, die wir uns hier stellen.» Doch sofort wurde sein Gesichtsausdruck wieder weicher. «Betrachten Sie uns als eine Art Familie, Herr Albrecht. Würden Sie sich solche Fragen über Ihre Eltern stellen?»
Der Hauptkommissar hätte erwidern können, dass schon die Tatsache seiner Existenz dazu geführt hatte, dass eine solche Frage niemals akut geworden war. Doch er verzichtete darauf, bedankte sich für die Auskünfte und verließ das Gebäude durch die Glastür, die sich von selbst öffnete, als er auf sie zuging.
Er hörte einen leisen Piepton und spürte durch die Schuhsohlen die Struktur des Bodenbelags. Zweifellos eine Orientierungshilfe für Marius.
Er legte den Kopf in den Nacken.
Dunkle Wolken jagten über den Himmel. Hamburg war nicht mehr als eine Ahnung von Licht über den Wipfeln. Ein Abend, an dem sich womöglich sogar Marius hätte vor die Tür wagen können.
Er dachte über die neuen Informationen nach. Freunde. Gefährten.
In welchem Maße war der Moderator Herr im eigenen Haus? Wie groß war die Gruppe der alten Getreuen, die sich regelmäßig zu den Sitzungen einfand?
Albrecht schüttelte den Kopf.
Das war unerheblich, was die Frage der Identität des Täters anbetraf.
Justus hatte davon gesprochen, dass Marius ihm schon bei verschiedensten Gelegenheiten geholfen hätte. Doch in der Regel leistete der Moderator seine fragwürdige Hilfestellung am Telefon.
Damit gab es nicht den Hauch eines Beweises, dass der Täter das Gelände überhaupt schon einmal betreten hatte.
Friedrichs war am Vorabend mit ihrem Mann verabredet gewesen, aber niemals erschienen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich also bereits in der Hand des Täters befunden.
Justus hatte mehr als vierundzwanzig Stunden gewartet, bevor er sich über den Sender gemeldet hatte.
Täter und Opfer konnten in diesem Moment überall sein.
***
«Hannah?»
Keine Antwort.
«Hannah, meine Freundin?»
Marius’ Hände lagen flach nebeneinander auf dem Tisch, die Handflächen nach oben gerichtet.
Merz und Dennis hatten die Besucherstühle
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