Öffne deine Seele (German Edition)
aufbringen könnte. Lediglich die Bestätigung, dass der Mann hinter dem Studiotisch sehr genau zuhörte.
Ich bin für dich da, mein Freund.
«Und was hat deine Mutter gesagt?»
Ein Schnauben. «Durchhalten.» Felix – Falk Sieverstedt – räusperte sich. «Ich muss durchhalten. Sie muss es auch. Jeden Tag.»
«Und weißt du, was sie damit gemeint hat?»
«Geht es um sie?», fragte Felix mit plötzlich gehobener Stimme. Ungehalten, deutlich ungehalten. «Oder um mich?»
Albrecht hatte den Mann hinter dem Schreibtisch sehr genau im Auge.
Keine Veränderung. Nicht das winzigste Zucken, nicht die kleinste Reaktion auf den plötzlichen Stimmungsumschwung.
Im Gegenteil: Das Ausbleiben einer Reaktion war geradezu demonstrativ. Regloses Schweigen. Nichts geschah. Doch gerade dieses Schweigen schien die einsame, stille Gestalt hinter dem Tisch noch einmal präsenter zu machen. Die Finger, die einander umschlossen, als ob in diesen Händen die Antworten auf alle Fragen der Welt ohne Mühe Platz hätten.
Schweigen.
Schließlich hörte man ein vernehmliches Schniefen aus der Telefonleitung.
«Bitte entschuldige.» Plötzlich wieder weinerlich. «Bitte, bitte entschuldige, Marius. Ich wollte dich nicht …»
Albrecht biss sich auf die Lippen.
Im selben Moment, in dem gestern Abend zum ersten Mal der Name Falk Sieverstedt gefallen war, hatte er sich geschworen, dass er alles Vorwissen ausblenden, sich unter keinen Umständen zu einem Gefühl verleiten lassen würde, wo keines hingehörte.
Er durfte dem Opfer einer Straftat sein Mitgefühl entgegenbringen. Das gehörte quasi zu seinen Pflichten als Kriminalist und konnte im Idealfall sogar einen zusätzlichen Ansporn für ihn bedeuten, die Tat aufzuklären.
Aber auf keinen Fall würde er sich irgendwelche unangemessenen Sympathien erlauben, die den Blick des Ermittlers trüben könnten. Irgendwelche Sympathien, nur weil die Eltern des Jungen ihm bekannt waren.
Albrecht stellte fest, dass er weit entfernt davon war, dieser Gefahr zu erliegen.
Felix, dachte er. Der Verweis auf die alten Römer war kein dummer Gedanke.
Aber der Mann hinter dem Studiotisch hätte den Jungen Nero oder Caligula nennen sollen. Ein verwöhntes Söhnchen aus besseren Kreisen, das nur sich selbst und seine eigenen Probleme im Kopf hatte.
«Ich bin dir nicht böse.» Marius’ Stimme war noch immer freundlich und mitfühlend. Der rügende Ton klang gerade so stark durch, dass Albrecht vor sich zu sehen glaubte, wie Falk Sieverstedt am Telefon zusammenzuckte.
«Aber ich kann dir nur dann helfen, wenn du offen zu mir bist», erklärte Marius. Die Finger lösten sich voneinander, die Handflächen wurden nach oben gestreckt: Schau, so wie ich. Ich habe nichts zu verbergen.
«Du darfst nichts zurückhalten, mein Freund. Du musst dich mir öffnen. Öffne deine Seele!»
Schweres Atmen am Telefon. «Ich … Ich werd’s versuchen, aber … Ich kann nicht mehr, Marius. Ich bin kurz davor, mir den Strick zu nehmen, und …»
Jörg Albrechts Augenbrauen schnellten in die Höhe. Den Strick ?
Im selben Moment Geraschel.
«Verdammt.» Unterdrückt, aus der Leitung. «Mein Vater … Marius, darf ich dich wieder anrufen? Darf ich …?»
Ein vernehmliches Knacken.
Marius rührte sich nicht.
Jörg Albrecht brauchte zwei Sekunden, bis ihm klarwurde, dass die Aufnahme zu Ende war und er ein Standbild betrachtete.
***
Marco Winterfeldt bemühte sich, unserem Chef zu erklären, wie er auf die Aufnahme mit dem Titel «Falk Sieverstedt bei Marius. – Fake?» gestoßen war. Offenbar war es dazu zunächst einmal notwendig, Albrecht die Funktionsweise von Videoportalen wie YouTube auseinanderzusetzen.
Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, wie ich am Ende schon die Aufnahme nur mit halbem Auge verfolgt hatte.
Marius, verdammt!
Es war etwa zwei Monate her.
Nach dem, was im letzten Herbst passiert war, hatten Dennis und ich eine Vereinbarung getroffen: keine Überstunden mehr, solange es sich nicht absolut vermeiden ließ. Mehr Zeit miteinander verbringen, und wenn es nur ein Abend vor dem Fernseher war.
Im Grunde hatten wir das ganz gut durchgehalten, in den ersten Wochen zumindest. Doch die Personalsituation auf dem Revier nahm eben keine Rücksicht auf meine angeknackste Ehe, und Faber und Matthiesen, die Einzigen, mit denen ich mich in der Schichtleitung abwechseln konnte, hatten sogar Kinder zu Hause.
Also wurde es doch wieder später, immer häufiger.
Dennis hielt wesentlich besser
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