Öffne deine Seele (German Edition)
begegnet war: Wenn die künstlerisch ambitionierte Mutter feststellt, dass die eigene Karriere irgendwo jenseits der Kunsthandwerkermesse in Lütjensee gnadenlos versickert, wird der Ehrgeiz umgehend an die nächste Generation weitergegeben.
Und die hat wenig Chancen, sich dagegen zu wehren.
«Ich weiß, dass meine Tochter jung ist.» Bettina Wahltjen sah mir fest in die Augen. «Und mir war klar, dass wir uns nicht ansatzweise vorstellen konnten, was es bedeuten würde, wenn Yvette bei den Megastars tatsächlich eine Chance bekommt. Es ist ja nicht die Musik allein und die Auftritte …»
«Mama …»
«… sondern das ganze Leben, das sich von heute auf morgen verändert, wenn man im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht. Neue Menschen, eine aufregende neue Welt, und alle versprechen sie das Blaue vom Himmel. Falk habe ich natürlich kennengelernt, und er war wirklich unglaublich, fast wie ein Kavalier der alten Schule. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass dieser junge Mann derselbe sein sollte, der …»
«Mama …»
«Sekunde, Liebling. – Ich mache mir ja keine Illusionen.» Ein Blick zu mir. «Ich habe mein ganzes Leben lang mit Künstlern zu tun gehabt.» Ein Nicken zu einer Pinnwand neben dem Kühlschrank, an der Fotos einer jüngeren Bettina Wahltjen befestigt waren: Mutter Wahltjen und Lilo Wanders, Mutter Wahltjen und Freddy Quinn, Mutter Wahltjen und Uwe Seeler. Warum auch immer der ein Künstler sein sollte. «Mit Leuten, über die die Presse schreibt, was ihr gerade in den Kopf kommt», korrigierte sie und präzisierte noch einmal: «Was Auflage bringt. Und vergessen Sie nicht, wie jung Falk noch ist. Man macht sich keine großen Gedanken, was man tut oder redet, wenn man so jung ist. Yvette ist da anders, nachdenklicher, aber bei Yvette habe ich …»
«Mama!»
Bettina Wahltjen verstummte.
Das junge Mädchen sah mich an.
Yvette war eine Schönheit. Haselnussbraune Augen, die Haare waren eine Spur heller und fielen ihr bis auf die Schultern. Als Teenager hätte ich für solche Haare getötet, und für den Teint des Mädchens erst recht.
Doch gleichzeitig war ich mir sicher, dass er nicht immer so aussah.
Falks Freundin war blass. Die Augen glänzten, ja, aber die Schatten um die Lider waren unübersehbar. Und auf eine schwer zu beschreibende Weise waren sie anders als die Schatten, die dort zu sehen sind, wenn man ein oder zwei Nächte auf Partys durchgemacht hat.
«Wa… Warum sind Sie hier?», fragte Yvette. «Was ist mit Falk passiert?»
Ich schluckte.
Nicht: Was hat er angestellt?
Hätte das nicht der erste Gedanke sein müssen? Schließlich war es nicht ausschließlich um Siege bei der Regatta oder Frauengeschichten gegangen, wenn die Presse über den Sohn der Sieverstedts berichtet hatte. Das Marihuana in seinem Wagen – knapp oberhalb der erlaubten Höchstgrenze – hatte am Ende zwar einem Freund gehört, und bei einer Schlägerei auf St. Pauli vor zwei oder drei Jahren hatte das Gericht auf Notwehr erkannt, doch wer die bunten Blätter aufmerksam verfolgte, konnte schon den Eindruck bekommen, dass da ein böser Bube aus gutem Hause unterwegs war.
Ich zögerte, wohl wissend, dass das die schlechteste Strategie überhaupt war.
Entweder rausreden oder auf der Stelle alles zugeben.
Albrecht hatte mir keine Anweisungen mitgegeben, doch wenn ich das Mädchen ansah, kam lügen nicht in Frage. Und rausreden wäre mir in diesem Moment vorgekommen wie eine glatte Lüge.
Ich sah das Mädchen an.
Ganz langsam hob Yvette die Hand und presste sie vor den Mund.
Ich war fast dankbar, dass mir die Antwort erspart blieb.
***
«Elisabeth.»
Es war kaum mehr als ein raues Ausatmen.
Die Konsulin musste das Wort von seinen Lippen lesen.
Die aufgeplatzte Haut über ihrem Wangenknochen, das zugeschwollene Auge, ein obszönes Mal auf ihrem totenblassen Gesicht.
Jörg Albrecht schloss die Lider und war selbst gezwungen, sich für einen Moment abzustützen.
Als er sie wieder aufschlug, verdeckte die gewaltige dunkle Brille von neuem die obere Hälfte von Elisabeth Sieverstedts Gesicht.
Und Albrecht stellte fest, dass seine Hand auf der Hüfte des Toten lag.
Er zog sie zurück, als hätte er sich verbrannt.
«Mein Gott, Elisabeth», flüsterte er. «Seit wann …»
«Seit wann was?» Ihre Stimme klang wie das Geräusch, das entsteht, wenn man Eiswürfel in ein Glas kippt. «Ich bin gefallen, Jörg. Du weißt doch sicher noch, wie furchtbar ungeschickt ich manchmal
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