Öffne deine Seele (German Edition)
entgegen. Ganz wie erwartet: Seitdem sich die Sender mit reißerischen Meldungen über Falk Sieverstedts Tod überboten, standen die Telefone nicht mehr still.
Ich folgte dem lang gezogenen Korridor der Dienststelle, von dem die Türen zu den einzelnen Büros abzweigten.
Bei Marco Winterfeldt blieb ich kurz stehen und klopfte.
«Aloha?»
Winterfeldts Version von Herein! , dachte ich. Von Guten Tag genauso und von Auf Wiedersehen sowieso. Im Grunde konnte das Wort für alles stehen.
«Hi», sagte ich. «Ich bekomme gleich noch eine Kopie der Second-Chance -Ausgaben rein, wegen der Marius-Gespräche. Ich hab’s an dich in Kopie schicken lassen. Falls du Zeit hast …»
Er sah ganz eindeutig aus, als ob er Zeit hätte. Auf seinem Monitor bewegte sich zwar irgendwas, doch Winterfeldt war offenbar weit mehr mit seinem USB-Hamster beschäftigt – einer Kreatur aus Kunstfell, die mitsamt einem kleinen Hamsterrad an einen der freien Steckplätze des Rechners angeschlossen wurde.
Ich kniff die Augen zusammen. Hatte er gerade Anstalten gemacht, das Vieh zu füttern ?
«Och …» Er ließ seine scheinbar knochenlose Hand hin und her schlenkern – Universalgeste. «Ich hab ja die Nachtschicht heute. An sich hab ich hier ’ne Suchroutine laufen, wegen Falks Bilderordnern, aber das schafft der Rechner ganz gut allein. Und bei Facebook ist er zwar angemeldet, aber da hat er sich seit Monaten nicht mehr blicken lassen. Nicht seine Welt, wenn du mich fragst.» Er hob die Schultern. «Also, wenn du willst, schau ich gern mal rein in die Aufnahmen – jedenfalls bis die aktuelle Ausgabe heute Abend losgeht. Die müsste ich schon sehen, oder? Dienstliche Pflicht und so.»
Eine recht gewagte Auslegung unserer Dienstvorschriften, doch in diesem Fall: Hatte er nicht irgendwie recht?
«Okay», sagte ich, zögerte dann aber. «Wenn wir die Aufzeichnungen sowieso kriegen, könnte ich mir den Besuch bei Marius ja fast schon sparen.»
Nachdenklich neigte der Computermann den Kopf hin und her. Bei dem Knacken, das dabei entstand, wurden mir die Knie weich.
«Ich würde trotzdem hinfahren», sagte er schließlich. «Einmal hat der Chef es angeordnet, und dann haben wir ja keine Ahnung, ob Marius nicht noch irgendwelche … wie heißt das … Hintergrundgespräche führt mit den Leuten. Meine Schwester meint, die sind sowieso alle gecastet. Wer lässt sich sonst so zusammenfalten?»
«Falk Sieverstedt war jedenfalls nicht gecastet», sagte ich.
Und Dennis auch nicht, dachte ich.
Doch mit seiner anderen Bemerkung hatte Winterfeldt natürlich recht.
Mit Sicherheit dachte Marius sich bei jedem seiner Anrufer ganz genau seinen Teil, ohne das zwangsläufig jedes Mal laut zu äußern.
Und man konnte über den Mann sagen, was man wollte: Seine Menschenkenntnis stand außer Frage. Auf eine gewisse Weise war er so was wie ein Kronzeuge.
«Ich fahre hin», sagte ich. «Morgen können wir uns dann zusammensetzen und abgleichen, was wir für einen Eindruck hatten.»
«Aloha.»
«Du auch», sagte ich und schloss die Tür. Im selben Moment stellte ich fest, dass diejenige gleich nebenan halb offen stand.
Seydlbachers Zimmer.
Ich steckte den Kopf rein. «Alois? Ich mach mich dann auf den …»
Irritiert kniff ich die Augen zusammen.
Alois Seydlbacher saß am Schreibtisch. Die Arbeitsfläche war vollständig leer geräumt, doch das schien er überhaupt nicht zu bemerken.
Er starrte – starrte worauf? – und zwirbelte sich unruhig den Bart.
«Alois?», fragte ich vorsichtig.
Er zuckte zusammen. «Hannah!»
«Alois? Ist alles in Ordnung?»
Schweigen. Dann: «Jessas!» Schweres Seufzen. «Host du no an Moment? Kunn i di wos frong?»
«Klar.» Ich riss mich zusammen. Umschalten auf Fremdsprache.
Es war unübersehbar, dass der Mann Hilfe brauchte. Was auch immer er auf dem Herzen hatte: Das war einer der Momente, in denen er einem auch nach vier Jahren in Hamburg immer noch vorkam wie ein in einem fernen Land ausgesetztes Findelkind mit Backenbart.
Er zupfte an seinen Hemdsärmeln, sah mich aber nicht an.
«Wos moanst’, Hannah? Wieso grad i? Wieso schickt der Chef grad mi auf de Mission bei de Zipfelklatscher?»
Ich starrte ihn an. «Was?»
«Woaßt scho. D’Hundatfünfasiebzga.»
Paragraph hundertfünfundsiebzig des Strafgesetzbuchs, dachte ich, der Homosexualität unter Strafe stellte.
Und vor bald zwanzig Jahren ersatzlos gestrichen worden war.
«Ned, dass i Probleme hätt mit dene Leit.» Nachdrückliches
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