Öffne deine Seele (German Edition)
Fehlanzeige.
Warum nur hatte ich nicht erwartet, dass sie es mir einfach machen würden?
«Ich würde mich gerne mit Marius unterhalten», sagte ich. «Wir hoffen, dass er uns bei einer unserer laufenden Ermittlungen helfen kann.»
Wieder ein Nicken, sonst keine Reaktion.
«Wäre das möglich?», fügte ich an.
Ein tiefes Einatmen. «Ich weiß nicht, wie Sie sich für gewöhnlich ankündigen, wenn Sie mit irgendwelchen Leuten Gespräche führen. Aber Sie können kaum erwarten, dass sich Marius nach Ihrem Terminkalender richtet. Und dass Sie ungünstig kommen, sollte Ihnen klar sein. Doktor Warnecke ist bei ihm, und es ist weniger als eine Dreiviertelstunde bis zum Beginn der Sendung.»
Ich verfluchte Joachim Merz. Wenn der Anwalt nicht geschlagene zwei Stunden mit dem Fernsehmenschen geplaudert hätte, hätten wir alle Zeit der Welt gehabt.
Doch es war die andere Aussage, die mich aufhorchen ließ.
«Ein Arzt? Ist Marius krank?»
Augenbrauen, die kritisch gehoben wurden: mehr als kritisch.
Ein Verweis, dachte ich. Eintrag ins Klassenbuch.
«Sie werden wohl kaum erwarten, dass ich Ihnen zu diesen Dingen Auskünfte erteile. Bitte kommen Sie mit!»
Merkatz drehte sich auf dem Absatz um, ohne darauf zu achten, ob ich ihr folgte.
Das Wohngebäude war eine zweiflügelige Anlage: das ursprüngliche Wohnhaus und angrenzend ein ehemaliger Stall. Der Eingang befand sich im Winkel zwischen diesen beiden Trakten und bestand aus einer Glastür zu ebener Erde, sehr viel jünger als das Gebäude, das sonst so stark an einen Bauernhof erinnerte.
Ich glaubte ein leises Geräusch zu hören, als die Tür beiseiteglitt, wie ein unterdrückter Klingelton, doch zu gedämpft für ein Warnzeichen.
Dahinter gab es eine Treppe mit breiten, niedrigen Stufen. Das Geländer mit Handlauf wirkte fast überflüssig. Ein bisschen wie bei Dennis’ Großmutter im Seniorenheim.
Ein weiter Raum, der beinahe die gesamte Grundfläche des ehemaligen Stallgebäudes einnehmen musste. Der Boden war mit einem Synthetikmaterial ausgelegt, eine unregelmäßige Struktur, die ich durch meine flachen Schuhe spürte.
Wie durch Magie wurde mein Blick auf eine Nische gezogen, die dem Eingang genau gegenüberlag. Ich brauchte einen Moment, bis mir klarwurde, dass es sich in Wahrheit um eine geschickte Lichtregie handelte. In der Decke verbargen sich Strahler, die die Ausbuchtung exakt in der Mitte der Wand dramatisch in Szene setzten.
Ein Porträt, schwarz-weiß und überlebensgroß, das Marius zeigte, wie die Welt ihn kannte. Seine Hände lagen auf der Tischplatte konzentriert ineinander, von einem harten Spot aus der Dunkelheit geschnitten. Die aufrechte Gestalt im Hintergrund dagegen war ein bloßer Umriss, der mit den kantigen Schultern und der länglichen, aristokratischen Kopfform dennoch auf der Stelle zu identifizieren war.
Es war dieselbe Aufnahme, die sämtliche Veröffentlichungen zu Second Chance schmückte, die DVD-Boxen mit dem Best of aus seiner Sendung, die Reihe von Ratgebern und pseudophilosophischen Abhandlungen, die Marius im Laufe der Jahre herausgegeben hatte.
Ein eindrucksvolles Bild, selbst im Taschenbuchformat. Hier, wo es den gesamten Raum beherrschte, war es einfach nur – gewaltig.
Ich musste die Augen fast mit Gewalt losreißen, um den Rest des Raums in Augenschein zu nehmen.
An einigen Stellen hatte man Fachwerkbalken stehen lassen, wie man das in einem restaurierten Bauernhaus erwarten konnte. Die Zwischenräume wurden fast komplett von deckenhohen Bücherregalen eingenommen. Automatisch wurde ich langsamer, als ich versuchte, einen Blick auf die Titel zu werfen.
«Die Bibliothek für die Schüler.»
Merkatz war stehen geblieben. Im letzten Moment konnte ich abbremsen.
«Schüler?»
Ein stummes Nicken.
Links von uns öffnete sich eine Tür, und einige junge Leute betraten den Raum – jenseits der zwanzig und jedenfalls nicht mehr im Schüleralter. Allerdings trugen sie eine Garderobe, die auf den ersten Blick fast an Schüleruniformen erinnerte. Obwohl die Kleidungsstücke ganz unterschiedlich geschnitten waren, sah ich überall gedeckte Farben, helle Hemden und Blusen, dunkle Hosen, bei einigen der jungen Frauen auch lange Röcke. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, glaubte aber die Besatzung des Holztransports wiederzuerkennen.
Als die jungen Leute Merkatz sahen, blieben sie stehen.
Ich hob die Augenbrauen.
Es war mehr als ein Nicken. Ein Nicken bekam ich von ihnen. Die Geste in Richtung von
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