Öffne deine Seele (German Edition)
Charakter eines Menschen abschalten – aber nicht seine Instinkte. Ein Mensch, der auch nur ansatzweise bei Bewusstsein ist, wird sich immer gegen das Ertrinken wehren. Ganz gleich, was von seiner Persönlichkeit noch übrig ist.»
Albrecht betrachtete den halbtransparenten Leichensack.
Ein Mensch, der das, was ihn eigentlich ausmachte, schon vor seinem Tod verloren hatte.
Der letzte Akt, der Akt im Dahliengarten.
War es möglich, dass es ganz unbeabsichtigt ein Akt der Gnade gewesen war?
Zwischenspiel IV
PK Königstraße
Akte Sieverstedt
Konvolut Second Chance , Gesprächsprotokoll Falk Sieverstedt («Felix») – 2. Anruf
Tag des Anrufs: 29. 4. d.J.
Anrufer verstorben: 23. 6. d.J.
(23:34 Uhr: Beginn des Gesprächs)
Marius (M.): Mein nächster Anrufer meldet sich mit verdeckter Rufnummer. Ihr solltet eigentlich wissen, dass ich das nicht gern sehe, meine Freunde. Wenn ihr mir nicht vertraut, kann ich euch nicht helfen. Kennen wir uns, unbekannter Anrufer?
Felix (F.) (leise): Hallo Marius. Ich bin’s … Felix. Ich rufe heute vom Handy aus an, deshalb keine Nummer.
M.: Felix? (Blättern von Papier) Ah, natürlich, Meine-Eltern-kennen-mich-nicht-Felix , Ich-nehm-mir-den-Strick-Felix . Offenbar hast du das noch nicht getan.
F.: (noch leiser) Ich bin gerade kurz davor.
M.: Oh, dann willst du dich nur noch vor mir verabschieden? Na, dann alles Gute, Felix!
F.: (plötzlich viel lauter) Halt! Nein, bitte … noch nicht.
M.: Ich höre, mein Freund. Allerdings solltest du dir schon genau überlegen, was du eigentlich von mir willst. An deinen Eltern kann ich nämlich nichts ändern. Deine Eltern haben mich nicht angerufen. Du hast mich angerufen. Was also willst du von mir? Glaubst du, ich würde dich besser verstehen, als deine Eltern das tun?
F.: (schweres Atmen) Wie machst du das, Marius? Wenn du mit den Leuten sprichst? Wie machst du das, dass sie alles von sich erzählen?
M.: Man sollte erwarten, dass das der Grund ist, aus dem sie mich anrufen. Sie erzählen mir, was ihr Problem ist – zumindest alle bis auf dich. Und ich versuche, ihnen zu helfen.
F.: Nein.
M.: (hörbar amüsiert) Das ist ein Wort, das ich nicht allzu häufig zu hören bekomme.
F.: Nein. Sie rufen an, weil sie ein Problem haben, das ist richtig. Aber ich glaube nicht, dass sie vorhaben, dir wirklich alles zu erzählen, was sie dann tatsächlich erzählen. Die ganze Geschichte. Die ganze Wahrheit.
M.: (Tonfall unverändert) Oh, dann bist du also ein Suchender, Felix? Ein kleiner Philosoph? Du würdest das auch gern beherrschen – so wie ich?
F.: Nein.
M.: Du sprichst in Rätseln. Übrigens warten gerade vier weitere Freunde in der Leitung, Felix. Das ist dir klar?
F.: Nein. Ich meine: ja. Wenn du das sagst, wird es so sein, aber, nein, ich möchte das nicht machen wie du. Ich habe da eine andere … Methode.
M.: Die du mir jetzt erklären wirst?
F.: Moment! (Im Hintergrund sind Geräusche zu hören: ein Motor, doch noch etwas anderes.) Marius?
M.: Ich stehe dir vollkommen zur Verfügung, mein Freund.
F.: (hektisch) Ich fotografiere. Aber ich kriege nie das ganze Bild, nie die ganze Geschichte. Ich begreife das einfach nicht. … Verdammt!
M.: (rügend) Felix!
F.: Verdammt, ich muss da dranbleiben!
(23:43 Uhr: Das Gespräch wird durch Felix beendet)
sechs – Dienstag, 25. Juni
D as war’s?»
Mit finsterer Miene stand unser Herr und Meister neben der Großleinwand.
Es war kurz nach halb zehn. Wir waren vollzählig im Besprechungsraum versammelt.
Albrecht, Lehmann und ich hatten von den jeweiligen Vorgängen des vergangenen Abends berichtet, wobei ich meine Begegnung mit Joachim Merz selbstredend ausgelassen hatte. Lediglich die Tatsache, wer Marius’ Anwalt war, hatte ich schlecht verschweigen können.
Albrecht wusste zu viel. Zu viel von dem, was im letzten Herbst geschehen war, und mir war nicht entgangen, wie er mich gerade schon angesehen hatte, als ich den Namen Merz auch nur erwähnt hatte.
Jedenfalls waren wir jetzt alle auf dem aktuellen Stand.
Und nun dieses Video: die Aufnahme von Falk Sieverstedts zweitem Telefonat mit Marius.
«Was diesen Anruf betrifft, war’s das, ja.» Marco Winterfeldt nickte. «Weiter bin ich noch nicht gekommen.»
Albrecht hob die Augenbrauen. «Was soll das heißen, weiter sind Sie nicht gekommen? Das sind keine zehn Minuten!»
«Was soll ich machen? Kein Mensch führt Buch, wer wann genau da angerufen hat. Falks erster Anruf stammt vom vierten April, das wussten wir aus dem
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