Öffne deine Seele (German Edition)
und am Anfang hieß es immer, das würde sich geben. Bald. Nein, irgendwann. Aber … Es wurde nicht besser. Es wurde nur anders.»
Ich machte mir ein paar Notizen, wusste aber auch hier, dass das sinnlos war. Es half weder der Frau, noch machte es das Mädchen wieder lebendig.
«In der Schule … Ihre Freundinnen …»
Ich konnte den Rest im Kopf ergänzen und fragte nicht nach.
«Die Pferde.» Die Frau stieß den Atem aus. «Das war der einzige Lichtblick. Mit sechzehn war sie fast schon zu alt für den Hof. Aber sie war gern hier.» Ein kurzes Lächeln zu der Frau neben ihr. «Jedes Jahr. Wenn es etwas gab, auf das sie sich gefreut hat …»
Es war das erste Mal, dass ich eine Spur stutzig wurde.
«Und doch hat sie ausgerechnet hier …», fing ich an.
«Ich hatte immer ein Auge auf sie», flüsterte die Mutter. «Zu Hause. Genauso ihre Brüder. Sie hatte so oft davon gesprochen, und letztes Jahr hat sie …» Die Stimme versagte.
«Sie hat eine Rasierklinge geschluckt», berichtete die Ferienwirtin leise. «Kurz nach Beginn des Schuljahrs. Aus einem Ladyshaver.»
Ich nickte und machte eine Notiz.
Ein erster Suizidversuch? Wenn er das gewesen war, hatte sie ihn nicht ernst gemeint.
Wir erleben das häufig: die üblichen Ritzereien und Schnippeleien, die irgendwann mal etwas tiefer gehen, halbherzige Überdosen von Aspirin oder Paracetamol oder eben die Miniklingen aus einem Damenrasierer.
Nichts davon ist wirklich ernst gemeint. Es ist der berühmte Schrei nach Aufmerksamkeit. Diesmal, wie es schien, hatte das Mädchen ernst gemacht.
«Im Winter dachte ich dann, diesmal, vielleicht … vielleicht geht es endlich aufwärts», flüsterte die Mutter. «Eine Zeitlang … ich dachte sogar … Sie hätte ihn nie ihren Freund genannt, aber eine Mutter spürt, wenn da etwas … Aber dann, von einem Tag auf den anderen … Sie war nur noch auf ihrem Zimmer. Ich habe keine Nacht mehr schlafen können. Wir waren bei einer zusätzlichen Psychologin, privat, aber auch dort …»
Ich holte Luft.
Diese Frau hatte die Hölle durchgemacht. Von einem Tag auf den anderen den Ehemann verloren, und das war erst der Anfang gewesen.
Jasmin war tot. Aber sosehr das Mädchen auch gelitten hatte: Was eine so labile Persönlichkeit der gesamten Familie über die Jahre antut, ist ein Verbrechen auf ganz eigene Weise. Emotionale Erpressung. Angst. Die Eltern kennen nichts anderes mehr. Keine Nacht, keine Minute ohne Angst.
Wenn diese Kinder sehen, wie ihre Familie auf ihre Drohungen reagiert, gewinnt der Mechanismus irgendwann etwas Vorsätzliches, ja, Spielerisches.
Sie leiden , und das macht sie zu etwas Besonderem. In der Familie, manchmal sogar bei den Mitschülern. Zu kleinen, tieftraurigen, selbstverliebten Stars. Und manchmal …
«Sie hatte kein anderes Thema mehr.» Ein neues Taschentuch. « Wie sie es machen könnte. Dass wir egoistisch wären, wenn wir sie zurückhalten. Dann hat sie sich wieder tausend Mal entschuldigt. Nein, sie würde es schaffen, ganz bestimmt. Sie würde kämpfen. Sie hat sogar bei diesem …» Ein Schnauben. «Diese Fernsehsendung, bei der man anrufen kann …»
Ich erstarrte mitten in der Bewegung.
«Marius», murmelte sie. «Letzte Woche, kurz bevor sie herkam, hat sie sogar bei diesem Marius angerufen.»
Der Kugelschreiber fiel mir aus der Hand.
***
PERSÖNLICHES STATEMENT
In der Nacht vom dreiundzwanzigsten auf den vierundzwanzigsten Juni wurde in einem Bassin im Altonaer Volkspark der Leichnam des dreiundzwanzigjährigen Falk Sieverstedt gefunden. Die Auffindungssituation ließ den Verdacht auf ein Fremdverschulden zu. Aufgrund der Bedeutung der Familie Sieverstedt für die Freie und Hansestadt Hamburg wurde das Polizeikommissariat Königstraße und wurde ich als dessen Leiter mit der Klärung der Tatumstände betraut.
Ich habe die Leitung dieser Ermittlung akzeptiert, obwohl mir klar sein musste, dass ich, da mich vor einigen Jahren eine nicht nur platonische Beziehung mit der Mutter des jetzigen Opfers verband, in höchstem Maße befangen bin.
Die Gründe, die mich dennoch zu einer Übernahme der Ermittlung bewogen haben, werde ich den zuständigen disziplinarrechtlichen Stellen erläutern.
Bis zum Ausgang dieser Untersuchung lasse ich meine Aufgaben als Leiter des PK Königstraße mit sofortiger Wirkung ruhen.
KHK Jörg Albrecht
Ein letztes Mal las er den Text sorgfältig durch.
Die Aktenmappe, die ihn auf die Pressekonferenz begleiten würde, lag
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