Öffne deine Seele (German Edition)
Duvenstedt, Ohlstedt, Wohldorf oder wie die Orte alle hießen, im Angebot gehabt. Die Bevölkerung hier oben wuchs ständig – nicht unbedingt zur Freude der Alteingesessenen.
Trotzdem gab es noch immer echte dörfliche Strukturen, so auch diesen Hof, der eine Ferienreitschule beherbergte.
Einer unserer Peterwagen stand vor einem Scheunengebäude, von der Straße aus unsichtbar. Ein uniformierter Kollege, den ich noch nie gesehen hatte, blickte auf, als ich in den Hof fuhr.
Ich stieg aus, zückte meinen Dienstausweis und stellte mich vor.
«Udo Tietgen.» Der Uniformierte gab mir die Hand. Rötliches Gesicht und klassischer Bullenschnauzer: Von der Sorte gab es nicht mehr viele.
Falls er in mir die Geistesgestörte aus der Morgenpost wiedererkannte, zeigte er das nicht.
Doch ich spürte, wie er mich trotzdem eingehend musterte. Nicht alle Kollegen waren begeistert, wenn irgendein Detail ihres Falls sie zwang, das PK Königstraße hinzuzuziehen. Wenn obendrein von Anfang an klar war, dass wir alle nur unsere Zeit verschwendeten, machte es das nicht besser.
In diesem Fall war der Vater des Opfers vor einigen Jahren bei einem Raubüberfall auf die Sparkasse in Wellingsbüttel ums Leben gekommen. Ein typisches Zufallsopfer: zur falschen Zeit am falschen Ort.
Doch das interessierte unsere internen Regelungen eben nicht. Wenn zwei enge Verwandte scheinbar unabhängig voneinander gewaltsam ums Leben kamen, bekamen wir den Vorgang in der Königstraße auf den Tisch.
Tietgen trug es jedenfalls mit Fassung.
«Das Mädchen ist noch im Stall», sagte er leise. «Strangulation. Armes Ding.»
Ich nickte mit zusammengebissenen Zähnen und ging voraus, als er mit einer Handbewegung zur Stalltür wies.
Suizidfälle gehören zum Traurigsten unter all den Dingen, mit denen wir regelmäßig konfrontiert werden.
Ein Mord, jede Art von Fremdtötung kann noch so grausam sein, noch so widerwärtig und für keinen gesunden Menschen nachvollziehbar. Ein Selbstmord hat eine andere Dimension. Dass ein Mensch sich so sehr hasst, an sich selbst so sehr verzweifelt, dass er keine andere Möglichkeit mehr sieht … Es liegen eine Kälte und eine Einsamkeit in dieser Vorstellung, oder vielleicht ist es doch noch etwas ganz anderes:
Die Möglichkeit, jemals einen kaltblütigen Mord zu begehen, werden die meisten Menschen für sich ausschließen. Das eigene Leben aber? Wenn die Umstände sich irgendwann einmal so oder so verhalten sollten? Eine unheilbare Krankheit, der Verlust des Partners, vollständige Vereinsamung? Wer könnte vollkommen ehrlich und aus ganzem Herzen antworten: Nein, das käme für mich niemals und unter gar keinen Umständen in Frage.
Ich trat ins Halbdunkel des Stallgebäudes.
Gedämpftes Wiehern von rechts, doch Tietgen wies in die entgegengesetzte Richtung.
Eine weitere uniformierte Gestalt, daneben ein jüngerer Mann, der dabei war, ein Formular auszufüllen. Einer von Martin Eulers Kollegen.
Zwischen ihnen lag die Tote.
«Mein Gott.» Ich blieb stehen. «Sie ist ja noch ein Kind.»
«Jasmin Vedder», sagte Tietgen leise. «Sechzehn Jahre alt. Man könnte sie auch für zwölf halten.»
Widerstrebend trat ich einige Schritte näher.
Das Mädchen lag auf einer Plastikplane und trug Jeans und Pullover – Größe 152, maximal.
Die bläulich geschwollene Zunge war im Todeskampf aus dem Mund getreten, die Augen starr geöffnet. Ein Netz rötlich geplatzter Adern, nicht anders als bei Falk Sieverstedt.
«Sie hing dort drüben», sagte Tietgen und wies ins Dunkel des Stallgebäudes. «Hat zwei Strohballen übereinandergestapelt und mit den Füßen weggestoßen. Eins der anderen Mädchen hat sie heute früh entdeckt, als es nach den Pferden sehen wollte. Die Psychologin ist schon da.»
Ich nickte. Im Moment hatte ich Mühe, irgendein Wort hervorzubringen.
Unsere Routine sind die Toten, dachte ich.
Wir glauben , sie wären Routine. Bis wir vor ihnen stehen.
«Gibt es einen Abschiedsbrief?», fragte ich mit rauer Stimme.
«Noch nicht.» Tietgen schüttelte den Kopf. «Wir haben ihr Zimmer versiegelt; vielleicht finden wir noch was. Aber ihre Mutter sagt … Sie verstehen: der Vater. Der Banküberfall. Die beiden standen sich wohl sehr nahe. Sie ist nie darüber weggekommen.»
«Die Mutter ist …»
«Sie ist hier. Im Hauptgebäude, mit den Herbergseltern oder wie sich das schimpft. Sie hat was zur Beruhigung bekommen, aber Sie können mit ihr sprechen.»
«Okay», sagte ich leise und zwang mich,
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