Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
wie man es nur sein kann, aber ich halte mich auf den Beinen.«
» Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir leid.«
» Das braucht es nicht, ich habe die Leute satt, die Mitleid empfinden.«
Lucie lächelte ihn schüchtern an.
» Ich versuche, etwas aus der Lektion zu lernen.«
» Gut, ich glaube, es ist Zeit schlafen zu gehen. Morgen erwartet uns ein anstrengender Tag.«
» Ja, es ist Zeit…«
Sharko schickte sich an zu gehen, wandte sich aber dann noch einmal seiner Kollegin zu.
» Henebelle, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Etwas, um das ich nur eine Frau bitten kann.«
» Und dann hätte ich auch noch eine Frage… aber sagen Sie zuerst.«
» Könnten Sie morgen um Punkt sieben die Dusche im Badezimmer anstellen? Sie müssen nicht duschen. Sie können natürlich, wenn Sie wollen, aber was ich meine, ist nur, dass ich das Wasser laufen höre.«
Lucie zögerte kurz, ehe sie begriff. Ihr Blick wanderte zu dem Foto von Suzanne, und sie nickte.
» Okay.«
Sharko deutete ein Lächeln an.
» Sie sind dran, stellen Sie Ihre Frage.«
» Wen haben Sie vorhin vom Bahnhof aus angerufen? Mit wem haben Sie angeblich ›ausgehandelt‹, dass ich hier schlafen kann?«
Sharko antwortete erst nach einer kleinen Weile:
» Der Computer steht dort hinten… Sie können ihn für Ihre Recherchen benutzen. Sie brauchen ihn nur einzuschalten. Es gibt kein Passwort. Wozu auch?«
Kapitel 37
Die Filme eines Irren…
Das war der einzige Eindruck, der Lucie von ihren nächtlichen Recherchen über das Werk von Jacques Lacombe blieb. Er war ein Mann mit stahlhartem Blick und einem Mund so schmal wie eine Klinge. Das digitalisierte Foto aus dem Jahr 1950 hatte sie im Blog eines begeisterten Fans gefunden. Es war während einer Abendveranstaltung aufgenommen worden– anscheinend das letzte Mal, dass man den Regisseur in der Öffentlichkeit gesehen hatte. In einem Smoking, ein Glas in der Hand, sah Lacombe mit solcher Intensität ins Objektiv, dass Lucie Gänsehaut bekam. In seinem Blick lag etwas Unheilvolles.
Einige seiner Anhänger hatten versucht, eine Biografie zu erstellen, doch sie endete immer am selben Punkt: Nach den ereignisreichen Dreharbeiten in Kolumbien und seinen Problemen mit der französischen Justiz war Lacombe im Jahr 1951 definitiv untergetaucht. Nur ein Teil seines Werks– man schätzte, dass etwa die Hälfte verloren war– zirkulierte noch im Kreis seiner Fans. Von diesem undurchsichtigen Menschen war nichts geblieben als eine Handvoll Kurzfilme, die von den Filmfreaks als Crash Movies bezeichnet wurden.
Crash Movies … gedreht zwischen 1948 und 1950, vor der Reise nach Kolumbien. Wie die Blogger erklärten, handelte es sich um neunzehn Filme, deren einziges Ziel es war zu zeigen, was bisher in diesem Genre unbekannt war, eine Art künstlerische Glanzleistung auf Zelluloid. Der Sinn war Lacombe völlig gleichgültig, was ihn interessierte, war vor allem die Reaktion des Publikums. Seine Passivität gegenüber dem Bild, seine Beziehung zu Handlung und Geschichte, seine voyeuristischen Neigungen, die Vorliebe für Intimitäten und auch die Toleranz gegenüber dem konzeptuellen Film. Er stellte die Sehgewohnheiten und die filmischen Gesetze auf den Kopf. Stets dieses Bedürfnis, Neues zu kreieren, zu stören und zu schockieren.
Und dann dieser kleine weiße Kreis am oberen rechten Bildrand, der bei jedem der neunzehn Minifilme erschien. Lucie begriff, dass es sich um ein Markenzeichen, eine Art Signatur handelte. Bei ihrer weiteren Suche stieß sie auf eine Erklärung von Lacombes Technik. Das Spiel mit Kasch, Spiegel und Überlagerung. Einige Blogger versuchten sich an einer Interpretation des weißen Kreises. Sie bezeichneten ihn als den » blinden Fleck«, der in physiologischer Hinsicht einem Ausschnitt der Netzhaut glich, der nicht über Lichtrezeptoren verfügte. Es wurde sogar ein Versuch angeboten:
Wenn man das linke Auge schloss und aus etwa fünfzehn Zentimetern Entfernung nur das Rechteck betrachtete, verschwand der Kreis schließlich aus dem Blickfeld. Diese Unzulänglichkeit des menschlichen Auges verwunderte Lucie. Gab Jacques Lacombe nicht letztlich durch seine Signatur zu verstehen, dass das Auge kein perfektes Instrument und auf viele Arten zu täuschen war? Kündigte er nicht klar an, dass er diesen Mangel zur Triebfeder seiner Filme machen würde? Im Grunde kaschierten diese Minifilme die ersten Anzeichen eines perversen und kranken Geistes, der
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