Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Mascouche, Rawdon, die Gebiete, die sie durchfuhren, waren immer spärlicher besiedelt. Dann folgte eine endlose gerade Strecke, gesäumt von Nadelgehölzen und Ahornbäumen, so weit das Auge reichte. Sie begegneten nur noch wenigen Lastwagen und Autos. Es wurde Nacht. Von Zeit zu Zeit tauchten Lichter auf, vermutlich handelte es sich um Schiffe, die auf Flüssen und Seen navigierten. Nachdem sie etwa hundert Kilometer zurückgelegt hatten, befahl ihr der Mann, rechts in einen Weg einzubiegen. Im Scheinwerferlicht tauchten dicke Bäume von beeindruckender Höhe auf. Lucie hatte das Gefühl, am Rande eines Abgrunds zu stehen. In der letzten halben Stunde hatte sie nicht mehr als zwei oder drei Häuser gesehen.
Plötzlich war in der Dunkelheit ein Chalet zu erkennen. Als die Ermittlerin den Fuß auf den Boden setzte, hörte sie das ohrenbetäubende Tosen eines Wildbachs. Frischer Wind blies ihr durchs Haar. Der Mann verharrte eine Weile, den Blick in die Finsternis gerichtet. Er schloss die Tür des Holzhauses auf, und Lucie trat ein. Im Inneren roch es nach gebratenem Wild. Am anderen Ende des Raums stand ein imposanter Ofen vor einer großen Fensterfront, hinter der sich das Mondlicht in einem See spiegelte. In einer Ecke lehnten Angelruten und ein alter Bogen, Holzfällersägen und hölzerne Formen neben Figuren aus Ahornzucker.
Der Kanadier legte seufzend seine Waffe auf den Tisch und nahm die Schirmmütze ab, unter der schütteres graues Haar zum Vorschein kam. Nachdem er auch seine Jacke abgelegt hatte, wirkte er noch älter und magerer: ein müder, erschöpfter Mann.
» Dies ist der einzige Ort, an dem wir ungestört und in Sicherheit miteinander reden können.«
Auf einmal sprach er nicht mehr mit amerikanischem, sondern mit kanadischem Akzent. Lucie erkannte die Stimme sofort wieder.
» Sie sind der Mann, mit dem ich von Wlad Szpilmans Handy aus telefoniert habe?«
» Ja, ich heiße Philip Rotenberg.«
Wieder der amerikanische Akzent. Ganz offensichtlich war er ein sprachliches Chamäleon.
» Wie…?«
» Wie ich Sie gefunden habe? Ich habe einen hochsituierten und zuverlässigen Informanten bei der Sûreté von Quebec. Er hat mir Bescheid gegeben, sobald er von Ihrem Amtshilfeersuchen Wind bekommen hat. Eine junge französische Polizistin, die in den Archiven von Montreal recherchieren wollte. Ich habe sofort eine Verbindung zu jenem Anruf hergestellt. Ich wusste, um welche Zeit Sie ankommen und in welchem Hotel Sie wohnen würden. Seit gestern folge ich Ihnen. Jetzt bin ich sicher, dass ich Ihnen vertrauen kann.«
Rotenberg bemerkte, dass Lucie wankte. Er ging zu ihr, hakte sie unter und führte sie zum Sofa.
» Wasser, haben Sie Wasser?«, bat sie. » Ich habe kaum etwas getrunken und gegessen, und der Tag war anstrengend.«
» O ja, entschuldigen Sie. Natürlich.«
Er lief in die Küche und kam mit Wurst, Brot, Wasser und Bier zurück. Lucie trank hastig mehrere Gläser Wasser und aß einige Scheiben Brot mit Wurst, anschließend fühlte sie sich besser. Rotenberg hatte sich ein Bier aufgemacht. Aufmerksam betrachtete er die kleine Flasche, die er in der Hand hielt.
» Zunächst müssen Sie wissen, wer ich bin. Ich habe lange in einer Washingtoner Kanzlei der American Civil Liberties Union, der Amerikanischen Bürgerrechtsunion, gearbeitet, und zwar zusammen mit Joseph Rauth, einem sehr bekannten Anwalt. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Washington… dort, wo der Regisseur Jacques Lacombe gelebt hatte.
» Nein, rein gar nichts.«
» Dann wissen Sie also weniger, als ich dachte.«
» Ich bin hier in Kanada, um Antworten zu finden. Ich will verstehen, warum man tötet, um einen über fünfzig Jahre alten Film an sich zu bringen.«
Rotenberg atmete tief durch.
» Sie wollen wissen, warum? Weil alles in dem Film enthalten ist, Mademoiselle Henebelle. In ihm verbirgt sich der Beweis für die Existenz eines Geheimprogramms der CIA , das hilflose Kinder als Versuchskaninchen für seine Experimente eingesetzt hat. Dieses mysteriöse Programm, von dem heute kaum jemand etwas weiß, wurde parallel zum Projekt Mkultra entwickelt…«
Lucie strich sich das Haar aus der Stirn. Mkultra, diesen Begriff hatte sie in Szpilmans Bibliothek bei den Spionagebüchern gesehen.
» Tut mir leid, aber… ich verstehe gar nichts.«
» In diesem Fall muss ich wohl etwas weiter ausholen.«
Philip Rotenberg ging zum Ofen und legte einige Scheite hinein.
» Selbst im Juli sind die Nächte in den Wäldern des Nordens
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