Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
für Geisteskranke umzuwandeln. Warum? Weil eine solche Anstalt vom Staat ein Tagegeld von zwei Dollar fünfundzwanzig Cent pro Insasse bekam. Weil man dort keinen Unterricht mehr erteilen und somit auch kein Geld für Erziehung ausgeben musste. Weil der Status als psychiatrisches Krankenhaus unter Missachtung aller Menschenrechte die Möglichkeit bot, diese Kinder als kostenlose Hilfskräfte einzusetzen. Gesunde Kinder, die sich um die kranken kümmerten, putzten, Essen kochten, den Nonnen, Krankenschwestern und Ärzten zur Hand gingen. Und so befanden sich die Waisen der Sonderschule von Mont-Providence über Nacht in einem Irrenhaus…«
Wahnsinn. Lucie spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten.
» Und allmählich entwickelte sich ein monströses System. Die Regierung von Quebec unterstützte aktiv den Bau von psychiatrischen Kliniken und die Umwandlung der bestehenden Einrichtungen in Irrenhäuser. Saint-Charles in Joliette, Saint-Jean-de-Dieu in Montreal, Saint-Michel-Archange in Quebec, Sainte-Anne in Baie-Saint-Paul, Saint-Julien de Saint-Ferdinand in Halifax… Und das sind nicht alle. Besagte illegitime Waisen, mit denen man nichts anzufangen wusste, wurden zu Opfern der Regierung Duplessis. Die Nonnen hatten keine andere Wahl, als sich den Regeln ihrer Oberin zu fügen.«
Sie seufzte erneut. Ihre Worte wurden immer unheilvoller. Lucie notierte Saint-Julien de Saint-Ferdinand in Halifax, das Krankenhaus, in dem Lydia gestorben war. War es möglich, dass diese Frau seit ihrer Kindheit das Krankenhaus nie verlassen hatte? Hatte das Massaker an den Kaninchen Jahre zuvor dort stattgefunden?
» In der Zeit von 1940 bis 1960 fälschten die Ärzte, die im Dienst der Orden standen, auf Anweisung der Regierung die Krankenakten der unehelichen Waisen. Sie erklärten sie für ›schwachsinnig‹ oder ›geistig zurückgeblieben‹. Und so wurden völlig gesunde Kinder zusammen mit wirklich Verrückten in Anstalten eingesperrt– und das jahrelang. Nur weil sie das Pech hatten, unehelich zur Welt gekommen zu sein. Man nennt sie noch heute, da sie erwachsen sind, die Duplessis-Waisen.«
Was Lucie hier entdeckte, überstieg jegliches Vorstellungsvermögen. Eine massenhafte Entmenschlichung mit Hilfe gefälschter Krankenakten, und das alles wegen düsterer Finanzgeschäfte.
» Wollen Sie damit sagen, dass die Duplessis-Waisen identifiziert sind? Leben sie noch?«
» Einige natürlich, selbst wenn viele von ihnen verstorben oder aufgrund der jahrelangen Misshandlung– Unterdrückung und Schläge– wirklich geisteskrank geworden sind. Etwa hundert von ihnen haben sich zu einer Vereinigung zusammengeschlossen. Schon seit Jahren verlangen sie Wiedergutmachung von Staat und Kirche. Aber es ist ein sehr langwieriger Kampf.«
Lucie spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie dachte an die Bilder des Films, die Worte der Schauspielerin Judith Sagnol, an das weiße, sterile Zimmer, in dem das Massaker stattgefunden hatte, an den mysteriösen Arzt neben dem Regisseur… Zweifellos waren Alice Tonquin und Lydia Hocquart Duplessis-Waisen. Gesunde Mädchen, die man systematisch für verrückt erklärt hatte.
Lucie sah der Archivarin in die Augen.
» Und… haben Sie gehört, dass in diesen Anstalten auch medizinische Experimente durchgeführt wurden? Sagt Ihnen der Begriff Syndrom E etwas?«
Patricia Richaud presste die Lippen zusammen. Ihre Heiligenmedaille hatte sie diskret in ihrer Bluse verschwinden lassen.
» Von Syndrom E habe ich nie etwas gehört. Aber es gibt zwei Dinge, die Sie noch wissen müssen. Da wir bei dieser schwarzen Periode sind, wollen wir auch bis zum Ende gehen. Von Anfang der Vierziger- bis in die Sechzigerjahre war eine vom Gesetzgeber der Provinz Quebec erlassene Verordnung gültig, die es der römisch-katholischen Kirche erlaubte, die Leichen der bei ihnen verstorbenen Waisen an medizinische Universitäten zu verkaufen.«
» Das ist widerwärtig.«
» Geld führt zu den schlimmsten Abartigkeiten. Aber das ist nicht alles. Sie haben von Experimenten gesprochen, ich aber spreche von Versuchskaninchen. Lebende, erwachsene Patienten, die in den Irrenhäusern zu experimentellen Zwecken missbraucht wurden. Und ich spreche von der Verwicklung der amerikanischen Regierung in diese Machenschaften.«
Den Blick starr auf das Foto von Alice gerichtet, hatte Lucie Mühe zu schlucken. Sie dachte an Clara und Juliette und hatte das zwingende Bedürfnis, ihre Stimmen zu hören, sie zu berühren, in die Arme zu
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