Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
in der Irrenanstalt wiedergefunden haben.«
Lucie empfand eine Art Mitleid für diese arme Frau, die allein mit ihrem Schmerz sterben würde.
» Sie konnten nichts für die Kinder tun. Sie waren im System und in Ihrem Glauben gefangen. Gott hatte damit nichts zu tun.«
Mit zitternden Händen hob Schwester Marie-du-Calvaire ihre Bibel und begann, leise zu lesen. Lucie und Sharko verstanden, dass sie in diesem Raum nichts mehr zu suchen hatten.
Schweigend gingen sie hinaus.
Kapitel 55
Die beiden Kripobeamten liefen zu Fuß vom Kloster zum nahe gelegenen Hauptbahnhof von Montreal, schweigend, jeder in seine finsteren Gedanken versunken. Sie sahen diese abgeschlossenen Krankensäle vor sich, in denen der Wahnsinn tobte, die kleinen verängstigten Mädchen mitten unter den schwer Geisteskranken. Sie meinten sogar, das Knistern der Elektroschocks zu hören. Wie hatte so etwas nur geschehen können? Sollte man von einer Demokratie nicht verlangen können, dass sie ihre Bürger vor derart barbarischen Entgleisungen schützte? Lucie empfand schließlich das Bedürfnis, das Schweigen zu brechen, um die aufsteigende Übelkeit niederzukämpfen. Sie schmiegte sich an Sharko, legte einen Arm um seine Taille.
» Du sagst gar nichts. Ich würde gerne wissen, was du empfindest.«
Sharko schüttelte den Kopf und stieß hervor:
» Abscheu. Nichts als abgrundtiefen Abscheu. Es gibt einfach keine Worte, um diese Dinge zu beschreiben.«
Lucie lehnte den Kopf an seine Schulter, und so setzten sie ihren Weg bis zum Bahnhof fort. Auf dem Vorplatz angekommen, lösten sie ihre Umarmung und gingen in Richtung einer der Hallen des gewaltigen Gebäudes, das jetzt, mitten im Sommer, von Reisenden überfüllt war. Von sorglosen, glücklichen oder eiligen Menschen…
Inspektor Pierre Monette und einer seiner Kollegen erwarteten sie bei einem Becher Kaffee. Sie begrüßten sich höflich und tauschten einige Banalitäten aus.
Die Schließfächer befanden sich in zwei langen Reihen einem Geldautomaten gegenüber, unter dem roten Ahornblatt der kanadischen Flagge. Lucie wunderte sich, dass ein Mann wie Rotenberg diesen offen zugänglichen und stark frequentierten Ort ausgewählt hatte, aber sie sagte sich, dass der Anwalt Kopien seiner Informationen wohl auch noch an anderen Orten deponiert hatte, wahrscheinlich so, wie Lacombe es mit seinen Filmkopien gemacht hatte, bevor er den Flammen zum Opfer fiel.
Pierre Monette deutete auf das Schließfach 201 ganz außen links.
» Wir haben es bereits geöffnet. Und das haben wir darin gefunden.«
Er holte etwas aus seiner Tasche.
» Ein USB -Stick.«
Er reichte ihn Sharko, der ihn näher in Augenschein nahm.
» Machen Sie mir eine Kopie davon?«
» Schon erledigt. Sie können ihn behalten.«
» Was meinen Sie dazu?«
» Wir können damit nichts anfangen. Ich zähle auf Ihre Erläuterungen. Ihre Geschichte hat inzwischen meine Neugier geweckt.«
Sharko nickte.
» Wir müssen Sie auch noch einmal um Hilfe bitten. Wir möchten Sie um eine eilige Nachforschung über einen Mann namens James Peterson oder Peter Jameson bitten. Er war in den Fünfzigerjahren Arzt in der psychiatrischen Klinik Mont-Providence und lebte in Montreal. Er müsste heute um die achtzig Jahre alt sein.«
Monette notierte sich die Angaben in seinem Notizbuch.
» Gut. Ich werde Sie wahrscheinlich gegen Abend anrufen.«
Als Lucie und Sharko den Weg Richtung Hotel einschlugen, blickte sich der Kommissar unauffällig um und suchte Eugénie in der Menge. Er reckte sich, um an einem Paar vorbeischauen zu können.
Sie war noch immer nicht wieder aufgetaucht.
Kapitel 56
Sharkos Hotelzimmer war bereits hergerichtet. Saubere Handtücher, frisch bezogenes Bett, die Pflegeprodukte neu aufgefüllt. Der Kommissar zog seinen alten Koffer vom Schrank. Er öffnete ihn und holte seinen Laptop heraus.
Lucie neigte den Kopf, die Stirn gerunzelt.
» Hast du da eine Flasche Sauce im Koffer?«
Sharko klappte den Deckel eilig zu und schloss den Reißverschluss.
» Ich habe oft Probleme mit dem Essen.«
» Kein Wunder bei Sauce und glasierten Maronen. Ihrer Farbe nach zu urteilen hat sie die Reise nicht gut überstanden.«
Ohne darauf einzugehen, steckte Sharko den USB -Stick in den dafür vorgesehenen Anschluss seines Laptops. Daraufhin öffnete sich ein Fenster mit zwei Verzeichnissen. Eines hieß Szpilman’s discovery, das andere Barley Brain Washing.
» Dieselbe Aufteilung wie auf Rotenbergs Computer. Vorsichtig, wie er war,
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