Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Hände an den Kopf.
» Der Mörder war sicherlich da. Nach jedem Massaker war er da, um sich die Gehirnmasse zu sichern.«
Lucie war bleich, als sie zurückkam und sich aufs Bett setzte. Ausdruckslos starrte sie auf den Bildschirm.
» Politische und ethnische Aspekte oder der Genozid an sich waren Szpilman völlig gleichgültig. Er suchte etwas anderes in diesen Massakern, bei denen völlig normale Väter und Kinder plötzlich anfingen zu morden. Unmittelbar vor seinem Tod hat Rotenberg mir von den Recherchen des Belgiers über besagte mentale Kontamination erzählt. Er hat erklärt, es gäbe vielleicht ein Phänomen, das durch seine Heftigkeit die zerebrale Struktur verändere.«
» Du meinst eine Art Virus?«
» Genau, nur dass er nichts Physisches oder Organisches hat. Es ist etwas, das durch das Auge direkt das menschliche Verhalten beeinflusst und Gewalt freisetzt.«
» Eine Art kriminelle, kollektive Hysterie.«
» In gewisser Weise. Seit ich den Film mit den Kindern gesehen habe, geht mir ein Vergleich nicht mehr aus dem Kopf: eine Staffel von Kriegsfliegern. Der Erste– sozusagen der Auslöser– greift an, und die Übrigen folgen ihm einer nach dem anderen, so als wären sie durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft. Und wenn das nun das vielbeschworene Syndrom E wäre? Ein Mensch, der als Auslöser wirkt und dessen Gewalttätigkeit sich dann durch mentale Kontamination von einem auf den anderen überträgt? Und Lacombe? Vielleicht wollte er unbedingt das Phänomen mit der Kamera einfangen? Einen konkreten Beweis für seine Existenz schaffen?«
Sharko lief im Zimmer auf und ab. Die Sache beschäftigte ihn voll und ganz. Es gab nichts anderes mehr, und das, was Lucie sagte, schien ihm zugleich aberwitzig und auf furchtbare Weise zutreffend. Durch seine persönlichen Recherchen und seine Hartnäckigkeit hatte Szpilman es herausgefunden. Er hatte Jahre damit verbracht, in Büchern zu suchen, Kontakt zu Kriegsfotografen aufzunehmen, Bilder zu sammeln und seine grauenvolle Entdeckung zu belegen. Letztlich war der Film, der zufällig in seine Hände gelangt war, das fehlende Teil des Puzzles gewesen, jenes, das ihm den eigentlichen Sinn seiner Suche verständlich machte.
» Immer wieder gab es Menschen, die mit medizinischem, ja, fast chirurgischem Interesse herausfinden wollten, wie dieses Phänomen funktioniert, und Lacombe war im Rahmen geheimer Versuche vor mehr als fünfzig Jahren beauftragt worden, es zu filmen. Die Übertragung der Gewalt durch einen bestimmten Auslöser. Das ist das Syndrom E.«
» Die Übertragung der Gewalt durch einen Auslöser«, wiederholte Lucie. » Ein seltenes, zufälliges Phänomen, das jederzeit und überall auftreten kann. Das lässt sich nicht so ohne Weiteres in einem Labor herstellen, also muss man am Schauplatz von Massakern suchen, im Herzen der kollektiven Hysterie, weil man hofft, in der Gehirnmasse der Toten eine Spur, einen Hinweis zu finden.«
Sharko setzte seine Überlegungen fort.
» Oberst Chastel wusste vom Syndrom E, denn die Akte, die die CIA damals hatte, ist in die Hände des französischen Geheimdienstes gelangt und dann zur Fremdenlegion. Dort werden die Männer, vor allem während der Auswahlphase, an ihre psychischen und physischen Grenzen getrieben. Und eine Kleinigkeit kann plötzlich dazu führen, dass sie ausrasten.«
» Du meinst, die Legion wäre ein fruchtbarer Nährboden für mentale Kontamination?«
» Genau. Denk an die Fotos, die die Soldaten vor den jüdischen Müttern mit ihren Kindern zeigen, oder an die der beilschwingenden Hutus, an die Gewalttätigkeit, die diesen Szenen innewohnt. Es gibt sicher Auslösefaktoren für das Syndrom, etwa Stress, Angst oder äußere Einflüsse.«
» Der Krieg, die Isolation… alles, was mit irgendeiner Form von Autorität zu tun hat. Die Nonne hat von dem Stress der Kinder gesprochen, die man einsperrte und anschrie.«
Sharko nickte überzeugt.
» Richtig. Ehe Chastel Chef des Korps wurde, leitete er in Guyana ein Überlebenscamp– so was ist die reinste Hölle und treibt die Legionäre in den Wahnsinn. Vielleicht ist das Syndrom auch dort aufgetreten. Deshalb hat sich unser Gehirndieb wohl auch für Chastel interessiert. Also macht dieser Zwischenstation beim Geheimdienst, ehe er nach Aubagne zurückkommt. Ich denke, man hat ihm die Leitung des Korps übertragen, damit er in seiner Truppe das Syndrom E provoziert und man es so an lebenden Probanden studieren kann.«
» Eine Art
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