Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Bodenfliesen, hohen Wänden und sichtbaren Rohren so typisch für die Gegend war. Auf dem Gasherd stand eine Metallkanne, die einen leicht bitteren Kaffeeduft verströmte. Als Claude Poignet zwei Tassen füllte, hatte Lucie den Eindruck, er würde flüssige Kohle einschenken. Normalerweise trank sie ihren Kaffee ohne Zucker, doch jetzt gab sie gleich zwei Stück hinein.
» Nun, haben Sie den Film sezieren können?«
Poignet lächelte. Seine Zähne waren wie das gesamte Dekor: hundert Prozent rustikal. Doch hinter seinen Falten erahnte man noch die Züge eines Mannes, der unglaublich viel Charme besessen haben musste– à la Robert Redford…
» Sezieren, das ist wirklich Polizeijargon. Wie kommt es, dass eine hübsche junge Frau wie Sie Verbrecher jagt?«
» Vermutlich wegen des Fiebers. Sie nehmen es mit Ihren Filmrollen auf und ich mit der Straße. Im Endeffekt versuchen wir beide, das zu reparieren, was kaputt ist.«
Sie zwang sich, das schwarze Gebräu zu trinken. Widerwärtig– da half auch der Zucker nichts. Eine Angorakatze strich schnurrend um ihre Beine. Lucie bückte sich und streichelte sie.
» Kennen Sie Ludovic schon lange?«
» Sein Vater und ich waren zusammen in der Armee. Vor zwanzig Jahren habe ich Ludovic seinen ersten Projektor geschenkt, einen 9,5 Millimeter von Pathé, den ich aus Platzgründen loswerden wollte. Schon damals hat er Filmvorführungen im Haus seines Vaters organisiert. Furchtbar, was ihm jetzt passiert ist. Seine Mutter ist gestorben, als er noch keine neun Jahre alt war. Wissen Sie, er ist wirklich ein guter Junge.«
» Ja, das weiß ich. Ich bin ja auch hier, weil ich ihm helfen will. Erzählen Sie mir etwas über den Film?«
» Also dann…«
Sie stiegen eine schmale Treppe mit knarrenden Stufen hinauf. An den Wänden hingen Dutzende von Porträts. Nicht von Filmstars, sondern von einer unbekannten Frau, deren dezent geschminktes Gesicht perfekt ausgeleuchtet war. Sicherlich die Erinnerung an eine große Leidenschaft, eine Liebe, die zu früh entschwunden war. Im ersten Stock angekommen, gingen sie über einen dämmrigen Flur mit abgetretenen Dielen.
» Links ist mein Entwicklungsraum. Manchmal filme ich zum Spaß noch mit einer alten Sechzehn-Millimeter-Kamera. Wenn ich diese Welt eines Tages verlasse, dann mit einem Filmstreifen in der Hand, das können Sie mir glauben.«
Er öffnete die Tür zur Dunkelkammer, die vollgestellt war mit Kameras, Filmrollen und chemischen Produkten, und schloss sie vorsichtig wieder.
» Wir gehen da rüber.«
Im letzten Raum befand sich ein regelrechtes Filmlabor. Schneidetisch, Bildbetrachter, Lupen und hochwertiges Informatikmaterial inklusive Filmscanner, aber auch viele ältere Werkzeuge wie Scheren, Leim, ein kleines Schneidegerät, Klebeband, Lineale. Hier wurde ein Film seziert wie eine Leiche bei einer Autopsie. Es gab sogar feine weiße Baumwollhandschuhe, die der Restaurator jetzt überstreifte.
» Bald wird das alles nicht mehr existieren, die Digitalkameras mit hoher Auflösung werden die guten alten Fünfunddreißig-Millimeter-Kopien verdrängen. Die Magie des Kinos verliert sich langsam, da können Sie sicher sein. Ein Film, bei dem nicht ein Bild springt, ist das überhaupt noch ein Film?«
Die besagte Rolle lag auf dem linken, waagerecht rotierenden Teller des Schneidetisches. Der Film, der etwa einen Meter weit abgespult war, wurde an einem Projektor mit einer kleinen Mattscheibe vorbeigeführt. Und dann auf der rechten Seite wieder aufgewickelt.
» Beginnen wir mit dem Anfang. Treten Sie bitte näher. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, dass Sie wirklich ganz bezaubernd sind.«
Mit Komplimenten schien er nicht zu geizen. Lucie lächelte und nahm neben ihm Platz.
» Wie wollen wir es machen? Einfach oder kompliziert?«, fragte er.
» Sie können ruhig etwas mehr ins Detail gehen. Ich verstehe zwar nichts davon, aber ich liebe Filme. Zu dem Zeitpunkt, als Sie Ludovic den Projektor geschenkt haben, habe ich mir abends um elf allein meinen ersten Horrorfilm angesehen. Der Exorzist. Meine schlimmste und schönste Erinnerung.«
» Der Exorzist … eine der rentabelsten Produktionen der Filmgeschichte. Der erste Regisseur, William Friedkin, hat seine Schauspieler unter unvorstellbaren Bedingungen arbeiten lassen, um ihre Ausdrucksfähigkeit zu verbessern: unerwartete Schüsse direkt am Ohr, eisige Temperaturen und so weiter. Heutzutage verlangen die Schauspieler ihren Komfort.«
Lucie betrachtete ihn voller
Weitere Kostenlose Bücher