Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Das Gefängnis kann nichts gegen die Ideen ausrichten«, murmelte Nahed. » Es sind Studentinnen, die dagegen protestieren, dass die Muslimbrüder nicht bei den Wahlen kandidieren dürfen.«
Sharko sah sich mit einer gut ausgerüsteten, modernen Polizei konfrontiert– Computer, Internet, technische Spezialeinrichtungen–, die aber noch nach alter Art zu funktionieren schien. Männer und Frauen, Letztere zumeist verschleiert, warteten in der Halle, die Bürotüren öffneten sich wie bei den Ärzten, und die kamen auch als Erste dran.
Sharko und die Dolmetscherin mussten ihre Handys abgeben, damit keine Fotos oder gar Gespräche aufgenommen werden konnten, und traten in einen Büroraum, der es mit einem Saal des Versailler Schlosses hätte aufnehmen können. Hier herrschte absolute Maßlosigkeit. Marmorboden, kanopische und minoische Vasen, edle Wandbehänge, vergoldete Bronzefiguren. Ein gewaltiger Ventilator drehte sich an der Decke und bewegte die stickige Luft. Sharko lächelte innerlich. Nationales Erbe, alles gehörte dem Staat und nicht diesem eitlen Fettwanst, der sich schwerfällig in seinem Sessel niederließ und an seiner einheimischen Zigarre zog. Viele Kairoer trugen ihr Bäuchlein mit einer gewissen Anmut vor sich her, was bei diesem Typen ganz entschieden nicht der Fall war.
Der Ägypter deutete mit ausgestreckten Händen auf zwei Stühle. Sharko und Nahed, die Notizblock und Stift zückte, nahmen Platz. Sie trug ein langes Kleid aus kakifarbenem Stoff und ein dazu ein passendes Tuch, das ihren gebräunten Hals nicht vollständig verbarg. Noureddine taxierte sie unverblümt mit seinen großen Schweinsaugen. Hier zeigte man gern, dass man die Frauen schätzte. Auf der Straße dagegen ertönten abschätzige Zischlaute, sobald ein nicht verschleiertes weibliches Wesen den Weg eines Muslims kreuzte. Noureddine rieb sich seinen Schnauzbart und hob ein Blatt vor sich. Während er sprach, füllte Nahed ihren Schreibblock mit stenografischen Symbolen, bevor sie dolmetschte.
» Er sagt, Sie sind ein Spezialist für Serienmorde und komplizierte Verbrechen. Über zwanzig Jahre im Dienst der französischen Polizei, genauer gesagt der Kriminalpolizei. Er sagt, er ist sehr beeindruckt. Er fragt, wie es Paris geht.«
» Paris erstickt. Und wie geht es Kairo?«
Noureddine steckte sich, während er sprach, lächelnd seine Cleopatrazigarre zwischen die Zähne. Nahed übersetzte:
» Pascha Noureddine sagt, Kairo zittert angesichts der Attentate, die den Nahen Osten erschüttern. Er sagt, Kairo wird von den Islamisten-Netzen weit mehr bedroht als von der Schweinegrippe. Er sagt, man irrt sich im Ziel, wenn man all diese Schweine in den Gräben der Stadt erschießt.«
Sharko erinnerte sich an die schwarzen Rauchwolken, die er am Stadtrand in der Ferne hatte aufsteigen sehen: die Schweine, die man verbrannte. Er antwortete mechanisch, doch bei dem Satz hätte er sich am liebsten übergeben.
» Ich bin ganz Ihrer Meinung.«
Noureddine nickte, schimpfte noch einen Augenblick und schob dem französischen Hauptkommissar dann eine alte Mappe zu.
» Was Ihren Fall betrifft– alles ist da drin. Die Akte von 1994. Nicht digitalisiert, dazu ist sie zu alt. Er meint, Sie haben noch Glück, dass er sie überhaupt gefunden hat.«
» Ich muss ihm danken, nehme ich an?«
Nahed übersetzte, Sharko sei Noureddine unendlich dankbar.
» Er sagt, Sie können sie vor Ort einsehen und morgen zurückkommen, wenn Sie wollen. Die Türen stehen Ihnen offen.«
Die Türen, ja, aber bewacht von Wärtern, die das geringste Geschehen, die geringste Geste registrierten. Sharko zwang sich, ihm mit einer Kinnbewegung zu danken, zog an den Gummibändern und öffnete die Mappe. In einer durchsichtigen Hülle stapelweise Fotos vom Leichenfundort. Dazu verschiedene Berichte, Karteien mit der Identität junger Mädchen, wahrscheinlich die der Opfer. Dutzende und Aberdutzende Seiten, beschrieben in arabischer Sprache.
» Bitten Sie ihn, von den Fällen zu erzählen. Allein bei dem Gedanken, dass Sie mir das alles übersetzen müssen, wird mir allerdings übel.«
Nahed richtete die Frage an den Ägypter. Der zog heftig an seiner Zigarre und spuckte eine dicke Rauchwolke aus.
» Er sagt, es ist schon lange her, er erinnert sich nicht mehr richtig. Er denkt nach.«
Sharko hatte das Gefühl, in der Geschichte von Tim und Struppi Die Zigarren des Pharaos mitzuwirken, und dem dicken Rastapopoulus gegenüberzusitzen. Das Ganze grenzte ans
Weitere Kostenlose Bücher