Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
können und über ein Instrumentarium verfügen, um sie zu entschlüsseln.«
Lucie dachte an die Untersuchungsmethoden der Kriminaltechnik zur Verbrechensanalyse.
» Natürlich stecken wir noch in den Kinderschuhen dieser Technik, doch in ein paar Jahren wird es sicher Apparate geben, die es ermöglichen, die Träume zu sehen. Wussten Sie, dass man in den USA daran denkt, Gehirnscanner in den Gerichtssälen zu installieren? Stellen Sie sich vor, wenn diese Geräte die Erinnerungen eines Angeklagten visualisieren. Keine Lügen mehr, stets gerechte Urteile… Ganz zu schweigen von den anderen Bereichen, wie etwa Medizin, Psychiatrie, die Entscheidungsebene großer Unternehmen. Man spricht heute auch schon von Neuropolitik. Die könnte eine Möglichkeit eröffnen herauszufinden, welche geheimen Emotionen ein Kandidat beim Wähler auslöst.«
Lucie erinnerte sich an den Film Minority Report. Das war schwindelerregend, aber die Wahrheit von morgen. Der Regisseur von 1955 ging mit seinen Subliminals bereits in diese Richtung.
Hinter der Scheibe lag der arme Hauptkommissar in der Röhre. Lucie war froh, diesem Horror entgangen zu sein. Den Streifen nur zu sichten war schon anstrengend genug.
» Was halten Sie von dem Film aus dem Jahr 1955?«, fragte sie.
» In jeder Hinsicht äußerst eindrucksvoll. Ich weiß nicht, wer der Regisseur ist, aber er war ein Genie, ein Vorreiter. Durch die Subliminalbilder und die Überlagerungseffekte übte er bereits Einfluss auf die Bereiche des primitiven Gehirns aus. Die Lust, die Angst, der Wunsch, sich über Tabus hinwegzusetzen. 1955 war das eine völlig unbekannte Vorgehensweise. Selbst die Werbung hat diese Möglichkeiten erst später entdeckt. Und jemand, der der Werbung voraus ist, ist zwangsläufig ein Genie.«
Claude Poignet hatte dasselbe gesagt.
» Und die verstümmelte Frau, der Stier? Alles Trickaufnahmen?«
» Ich habe keine Ahnung, das ist nicht wirklich mein Fachgebiet. Ich habe mich eher für den geheimnisvollen Charakter des Filmaufbaus interessiert als für den Inhalt. Entschuldigen Sie, aber mein Assistent bedeutet mir, dass alles bereit ist.«
Beckers ging zu den Monitoren. Auf einem von ihnen entdeckte Lucie etwas, was vermutlich das Gehirn des Hauptkommissars war. Eine pochende Kugel, in der Erinnerung, Charakter, Gefühle und das Erlebte wohnten. Auf einem zweiten Bildschirm sah Lucie das erste Bild des digitalisierten Films. Der Wissenschaftler nahm einige Einstellungen an seinem Computer vor.
» Wir können anfangen… das Prinzip ist einfach. Sobald die Neuronen angesprochen werden, verbrauchen sie Sauerstoff. Der f MRT stellt diese Oxigenierung farbig dar.«
Der Film lief an. Die Gehirndarstellung des Kommissars nahm, einem Regenbogen gleich, verschiedene Blau- und Rottöne an. Bestimmte Areale leuchteten auf, andere erloschen; die Farben wanderten hin und her wie Flüssigkeit in einem durchsichtigen Schlauch.
» Glauben Sie, dass Szpilman vor zwei Jahren mit Ihrem ehemaligen Direktor dasselbe Experiment durchgeführt hat?«, fragte Lucie. » Dass er diese Geräte benutzt hat, um den Film zu analysieren?«
» Ja, das ist wahrscheinlich. Wie ich dem Hauptkommissar schon am Telefon sagte, hat unser damaliger Chef mir kurz von der Sache erzählt. Er hat von einem sehr eigenartigen Film gesprochen. Aber ich habe damals nicht versucht, mehr darüber in Erfahrung zu bringen.«
Beckers wandte sich wieder dem Monitor zu und kommentierte das Geschehen.
» Jedes Bild, das in unser Sichtfeld kommt, ist äußerst komplex. Es wird zunächst von der Netzhaut verarbeitet und in einen Nervenimpuls verwandelt, den der Sehnerv in den hinteren Teil des Gehirns zum visuellen Cortex leitet. In diesem Stadium analysieren spezialisierte Hirnareale die Eigenschaften des Bildes. Farben, Formen, Bewegung sowie den Charakter: gewalttätig, komisch, neutral, traurig. Anhand dessen, was Sie jetzt sehen, können wir keine Rückschlüsse auf das Bild ziehen, das die Testperson gerade vor Augen hat, aber wir können einige der gerade erwähnten Charakteristika ablesen. Heutzutage versuchen die Spezialisten für bildgebende Verfahren durch eine Analyse des Farbengemisches herauszufinden, welches Filmgenre der Proband sieht: Komödie, Drama, Horrorfilm.«
» Und was ergibt das bei diesem Film?«
» Insgesamt extreme Gewalttätigkeit. Achten Sie einmal auf diese Areale…«
Er deutete auf bestimmte Zonen der elektronischen Darstellung des Gehirns.
» Sie leuchten nur von Zeit
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