Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
bald machten regelrechte Verschwörungstheorien die Runde. Man begann, Israel zu beschuldigen, es habe das Wasser in den Schulen vergiftet oder führe einen geheimen bakteriologischen Kampf. Man dachte sogar an ›Spätfolgen‹ des Krieges zwischen Iran und Irak. Alles und jeder wurden verdächtigt. Aus den medizinischen Analysen konnte man weiterhin keinerlei Rückschlüsse ziehen. Und nichts konnte erklären, warum von dem Phänomen überwiegend Mädchen betroffen waren.«
» Was war es dann also?«
» Einige Psychiater glaubten an eine kollektive Hysterie.«
» Eine kollektive Hysterie?«
Er deutete auf ein Buch mit englischem Titel zu diesem Thema.
» Ich habe mich für dieses Phänomen interessiert. Es gab sie zu jeder Zeit. In den meisten Fällen handelt es sich um Unwohlsein, Schmerzen, Übelkeit, Juckreiz oder Hautausschlag, von dem ganz plötzlich Dutzende Personen an einem Ort betroffen sind. Schon vor tausend Jahren wurde darüber berichtet. Im Juni 1999 wurden aus einer Schule eines Nachbarlandes von Ihnen, aus Belgien, vierzig Schüler ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem sie Limonade getrunken hatten, ohne dass sich irgendeine Vergiftung nachweisen ließ. 2006 erkrankten ohne offensichtlichen Grund etwa hundert Schüler in der vietnamesischen Provinz Tien-Giang an Verdauungsproblemen. Ich könnte Ihnen jede Menge weiterer Beispiele aufzählen. Das Golfkrieg-Syndrom, beispielsweise, das im Krieg von 1991 bei amerikanischen Soldaten beobachtet wurde. Einige Wochen nach ihrer Rückkehr begannen sie, an Gedächtnisstörungen, Übelkeit und Erschöpfung zu leiden. Man dachte an eine Kontamination mit Nervengiften, aber warum sollten dann die Frauen und Kinder dieser Soldaten, die auf amerikanischem Territorium geblieben waren, zur selben Zeit und an unterschiedlichen Orten identische Symptome aufweisen? Wir hatten es mit einer echten kollektiven Hysterie zu tun, von der die USA heimgesucht wurden.«
» Boussaïna Abderrahmane hätte demnach an der ägyptischen Form einer kollektiven Hysterie gelitten?«
» Sie selbst und sechs weitere Schülerinnen ihrer Klasse. Bei ihnen handelte es sich um die aggressive Form der Hysterie. Durch Beleidigungen und Stühlewerfen waren sie nach Aussage ihrer Lehrer zu wütenden Bestien geworden. Sie griffen sogar eine Mitschülerin tätlich an, zu der sie vorher ein gutes Verhältnis gehabt hatten. Warum führte diese Hysterie in einigen Fällen zu einer solchen Aggressivität? Leider weiß man es nicht. War der Stress durch zu strenge Lehrer der Auslöser? Waren es die prekären Lebensbedingungen der Schüler? Mangelnde Erziehung? Auf jeden Fall hat es dieses Phänomen gegeben, wirklich gegeben.«
Sharko kochte innerlich. Was er hier zu hören bekam, überstieg jegliches Vorstellungsvermögen. Kollektive Hysterie… er zeigte auf die beiden Fotos der anderen Opfer.
» Und diese Mädchen? Kennen Sie die auch? Hat Mahmud Abd el-Aal von ihnen gesprochen?«
» Nein. Sagen Sie bloß nicht, dass…«
» Auch sie wurden ermordet, zur selben Zeit. Davon wussten Sie nichts?«
» Nein…«
Sharko steckte die Fotos wieder ein. Wahrscheinlich hatte die Polizei alles dafür getan, dass die Angelegenheit nicht in die Presse kam und die Menschen beunruhigte. Inspektor Abd el-Aal seinerseits war professionell und vorsichtig. Er hielt seine Informationen geheim. Taha Abu Zeid löste den Blick von einem Punkt, auf den er gestarrt hatte, und schüttelte den Kopf.
» Diese verrückte Phase war sehr kurz, aber Boussaïna behielt gewisse Folgeerscheinungen zurück. Es gab bei ihr… eine Art Verhaltensstörung. Sie hatte regelmäßig aggressive Anfälle. Ihre Eltern brachten sie häufig in die Sprechstunde, da sie sich von ihren Klassenkameradinnen absonderte, eine Einzelgängerin wurde und sich schlecht fühlte. Man schob dies auf die Pubertät, auf ihr prekäres Umfeld. Aber… es war etwas anderes.«
» Und was?«
» Etwas Psychisches, das sie in ihrem Innersten getroffen hatte. Leider wurde sie umgebracht, bevor ich verstand, was es war. Zudem bin ich kein Psychiater.«
» Und ihre Klassenkameradinnen?«
» Die aggressive Phase ging vorbei. Sie hatten in der Folge keine besonderen Probleme.«
Sharko stieß einen gedehnten Seufzer aus. Je weiter er vorankam, desto unüberwindbarer schienen die Hindernisse. War es möglich, dass der Mörder die Mädchen, die an dieser kollektiven Hysterie litten, umgebracht hatte? Hatte er sich diejenigen ausgesucht, die am stärksten
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