Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
wahrnahm.
Traurig starrte er auf ein Stückchen Rasen. Genau hier hatte er Eugénie kennengelernt. Damals saß sie dort im Schneidersitz und las Les Exploits de Fantômette von Georges Chaulet, die Lieblingsgeschichte seiner Tochter. Sie hatte ihn angelächelt. Ein vergiftetes Lächeln, das erste Anzeichen seiner paranoiden Schizophrenie. Der Beginn des Leidenswegs, als hätte der Tod von Suzanne und Eloise nicht schon gereicht.
Selbst in den schlimmsten Phasen der Krankheit hatte Sharko immer auf die Unterstützung von Kathia und ihrem Mann, Martin Leclerc, zählen können– jenem Mann, dem es trotz aller administrativen Schwierigkeiten gelungen war, ihn zu halten. 2006 hatte Leclerc die Leitung einer völlig neuen Dienststelle übernommen, der OCRVP , der Zentralstelle zur Bekämpfung von Gewalt, und hatte ihm dort einen Posten als Profiler angeboten. Dieser Berufszweig innerhalb der Polizei war noch relativ neu und bestand darin, ungeklärte Gewaltverbrechen zu bearbeiten– theoretisch, ohne dabei das Büro zu verlassen. Abgleich von Informationen, psychologischer Ermittlungsansatz, Nutzung von Software- und Informationsprogrammen wie SALVAC , Interpol und STIC , mit dem Ziel, die Motive von Mördern zu erfassen. Mit seinem Abschluss in Kriminalpsychologie und seiner zwanzigjährigen Erfahrung auf der Straße hatte Sharko, der schizophrene Polizeibeamte mit paranoiden Zügen, die Treibjagd anders geführt, fern der Straße.
Er seufzte, als das Handy in seiner Tasche vibrierte. Das Display zeigte » Lucie Henebelle«. Es war fast Mitternacht. Sharko nahm das Gespräch mit einem leichten Lächeln an. Diese Frau hätte schlafen sollen wie andere Leute auch.
» Etwas spät, um Leute anzurufen, Kommissarin Henebelle.«
» Aber nie zu spät, um zu antworten… Ich wusste, dass Ihr Flieger um halb zehn Uhr in Orly gelandet ist, und habe mir gesagt, dass Sie unmöglich bereits schlafen können.«
» Welch erstaunliche hellseherische Fähigkeit. Wissen Sie auch, was man mir an Bord zu essen serviert hat?«
Lucie schnappte frische Luft vor dem Kinderkrankenhaus.
» Gestern habe ich Ihnen auf den Anrufbeantworter gesprochen. Sie haben nicht zurückgerufen.«
» Tut mir leid, aber man hat mir gegrillten Fisch auf dem Oberkörper serviert.«
Beide schwiegen. Lucie nahm das Gespräch wieder auf.
» Ich habe Neuigkeiten für Sie. Man hat…«
» Ich bin bereits auf dem Laufenden. Bei der Ankunft habe ich meinen Vorgesetzten angerufen. Der Mord an Szpilmans Sohn und seiner Freundin, der Diebstahl der Filmrolle und der verborgene Film, den Sie entdeckt haben. Ich habe ihn noch nicht heruntergeladen. Ich bin gerade woanders.«
» Wo denn?«
» Auf einer Parkbank. Ich habe mehrere tausend Kilometer hinter mich gebracht, mein Körper ist übersät mit Mückenstichen, als hätte ich die Masern, und ich versuche, ein paar Minuten nicht an diesen Fall zu denken, wenn Sie gestatten.«
Sharko klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und säuberte die Spitze seiner Schuhe mit einem Papiertaschentuch. Er schaute unter die Sohle und stellte fest, dass in den Rillen noch Sandkörner steckten. Er kratzte sie mit den Fingernägeln heraus und betrachtete sie aufmerksam.
» Warum rufen Sie mich an?«
» Das habe ich doch bereits gesagt, ich…«
» Was soll das heißen? Sie müssen sogar nachts über Leichen sprechen? Sie möchten wissen, was ich da unten entdeckt habe, um Ihre Besessenheit zu nähren? Ist das Ihr Treibstoff, Ihr Antrieb, jeden Tag einen Fuß vor den anderen zu setzen? Ich würde gerne Ihre Träume kennen, Henebelle.«
» Lassen Sie meine Träume doch bitte einfach dort, wo sie hingehören, und stecken Sie sich Ihre Amateur-Psychoanalyse sonst wohin. Ich wollte Ihnen im Zusammenhang mit unserem Fall einen Kurztrip nach Marseille vorschlagen, aber offensichtlich törnt Sie das nicht an. Schließlich bin ich ja auch nur Kommissarin und Sie sind Hauptkommissar.«
» Sie haben recht, das törnt mich nicht an. Gute Nacht, Henebelle.«
Damit beendete er das Gespräch. Lucie starrte einige Sekunden gekränkt auf ihr Handy. Dieser Typ war ein ausgemachter Idiot. Sie würde ihn nicht noch einmal anrufen, sollte er sich doch zum Teufel scheren! Wütend kaufte sie sich am Automaten einen Schokoriegel und verschlang ihn.
» Danke für die Kalorien, verdammter Hai!«
Dann ging sie in Richtung Treppe. Ein breites Lächeln trat auf ihre Lippen, als ihr Handy klingelte und sie den Namen las: Sharko. Sie wartete
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