Öffnet den Himmel
Neutralisierung aus. Einen Moment später wurde der Strang schlaff, und Martell war frei. Ebenso erging es dem Jungen. Die Stränge kehrten nicht in die Blase zurück, sondern blieben wie gelähmt auf der Straße liegen. Die mahlenden Zähne standen still; die wogende, hornartige Oberfläche des obenliegendes Rades beruhigte sich. Das Wesen war tot.
Martell warf dem Jungen einen Blick zu.
„Jetzt stehen wir gleich“, sagte er. „Ich habe dir das Leben gerettet und du mir; damit ist es ausgeglichen.“
„Die Schuld liegt immer noch auf deiner Seite“, sagte der Junge merkwürdig feierlich. „Wenn ich dich nicht zuerst gerettet hätte, hättest du mir ja niemals das Leben retten können. Es wäre dann auch gar nicht mehr nötig gewesen, mich zu retten, denn ich hätte gar nicht das Haus verlassen, und deshalb …“
Martells Augen wurden groß. „Wer hat dir beigebracht, so zu argumentieren?“ fragte er belustigt. „Du hörst dich an wie ein Ethik-Professor.“
„Ich bin Schüler von Bruder Christopher.“
„Und der ist …“
„Das wirst du schon selbst feststellen. Er will dich sehen. Und er hat mich geschickt, dich zu ihm zu bringen.“
„Und wo kann ich ihn finden?“
„Komm mit mir.“
Martell folgte dem Jungen zu einem der Häuser. Sie ließen das tote Rad auf der Straße liegen. Martell fragte sich, was wohl passieren würde, wenn eine Wagenladung Hochstehender vorbeigefahren käme und diese mit ihren eigenen aristokratischen Händen den Kadaver beiseite räumen mußten.
Der Missionar und der Junge traten durch ein hochpoliertes Kupfertor, das sich sofort auftat, als der Junge erschien. Dahinter fand Martell sich vor einem simplen, wie ein A geformtem Gebäude aus Holz wieder. Als er das Schild über der Tür entdeckte, war er so verdutzt, daß er den Griff um seinen zerfetzten Koffer lockerte; zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten wurden seine Habseligkeiten über den Boden verstreut.
Auf dem Schild stand:
ALTAR DER TRANSZENDENTEN HARMONIE
JEDERMANN IST WILLKOMMEN
Martells Knie wurden plötzlich weich wie Butter. Harmonisten? Hier? Die Häretiker in ihren grünen Roben, Abweichler von der ursprünglichen Vorster-Bewegung, hatten auf der Erde zumindest einige Zeit lang erklecklichen Erfolg gehabt; sie schienen sogar zu einer Bedrohung für die Mutterorganisation zu erwachsen.
Aber nun waren sie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr als eine absurd kleine Splittergruppe ohne jegliche Bedeutung. Es wollte kaum glaubhaft erscheinen, daß diese Ketzer, die so völlig auf der Erde versagt hatten, auf der Venus ihren Platz behaupten konnten – das war ja selbst den Vorstern bislang noch nicht gelungen. So etwas gab es ja gar nicht; einfach undenkbar.
Eine Gestalt erschien in der Tür: ein untersetzter Mann in den frühen mittleren Jahren, so etwa um die sechzig; sein Haar wurde langsam grau, und sein Gesicht war faltig. Wie Martell war auch er chirurgisch gemäß den venusischen Bedingungen umgewandelt worden.
Er wirkte ausgeglichen, ruhig und selbstsicher. Seine ebenfalls faltigen Hände ruhten leicht auf dem wie dazu geschaffenen priesterlichen Bäuchlein.
Er sagte: „Ich bin Christopher Mondschein. Ich hörte von Ihrer Ankunft, Bruder Martell. Treten Sie doch bitte ein.“
Martell zögerte.
Mondschein lächelte: „Ach, kommen Sie, Bruder. Dafür droht keine Strafe, zusammen mit einem Harmonisten das Brot zu brechen, oder? Sie wären jetzt ein Haufen Gehacktes, wenn der Junge nicht soviel Mut bewiesen hätte; und ich habe ihn ausgesandt, Sie zu retten. Sie schulden mir also die Freundlichkeit eines Besuchs. Nun kommen Sie schon herein. Ich will Ihrer Seele kein Unheil zufügen, Bruder. Das verspreche ich Ihnen.“
3
Die Harmonistenkirche wirkte bescheiden, stand aber offensichtlich schon länger hier. Da gab es den Altar, der mit den Statuetten und dem sonstigen Klimbim der Häretiker ausgeschmückt war, eine Bibliothek und einige Wohnräume. Martell entdeckte etliche venusische Jungen, die im hinteren Teil des Gebäudes arbeiteten; sie gruben dort, wie es schien, die Fundamente für einen Anbau.
Martell folgte dem älteren Mann in die Bibliothek. Eine Anzahl bekannter Bücher fiel ihm in einem Regal ins Auge: die gesammelten Werke von Noel Vorst, hübsch gebunden, die unbezahlbare Erstausgabe.
Mondschein sagte: „Sind Sie überrascht? Vergessen Sie nicht, daß auch wir das Supremat von Vorst anerkennen, auch wenn er uns ablehnt. Setzen Sie
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