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Öland

Öland

Titel: Öland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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sie
     denn geglaubt? Er war seit dreißig Jahren Polizist auf Öland,
     das hatte er ihr doch erzählt. Und genau wie Astrid hatte er es
     zurückhaltend und vorsichtig gewagt, das verbotene Thema
     aufzugreifen.
    »Waren Sie … dabei?«, fragte sie ihn leise.
    Lennart starrte auf die Tischplatte und zögerte mit einer
     Antwort, als würde die Frage unangenehme Erinnerungen
     wachrufen.
    »Ja, ich habe mitgesucht«, sagte er schließlich. »Ich war
     einer der ersten Polizisten vor Ort und habe die Suchaktion
     am Strand organisiert. Die Suche wurde erst kurz nach Mitternacht abgebrochen. Wenn ein Kind verschwindet, will keiner aufhören zu suchen.«
    Er schwieg.
    Julia erinnerte sich, dass Astrid fast das Gleiche gesagt
     hatte, und senkte den Kopf.
    »Entschuldigen Sie«, sagte sie Sekunden später, als ihr die
     Tränen kamen.
    »Dafür muss sich niemand entschuldigen«, sagte Lennart.
     »Ich habe auch schon oft geweint.«
    Seine Stimme war leise und sanft wie ein stiller See. Julia
     blinzelte und konzentrierte sich auf sein ernstes Gesicht, um
     sich zu beruhigen. Sie wollte etwas sagen, irgendetwas.
    »Gerlof«, sagte sie und räusperte sich, »er glaubt nicht, dass
     Jens – mein Sohn – ertrunken ist.«
    Lennart hob den Blick und sah sie an.
    »Aha«, erwiderte er nur.
    »Er … er hat einen Schuh gefunden«, fuhr Julia fort. »Eine
     kleine Sandale, von einem Jungen. So eine, wie Jens sie getragen hat …«
    »Einen Schuh?«, Lennart sah sie weiter an. »Eine Sandale.
     Haben Sie die gesehen?«
    Julia nickte.
    »Haben Sie sie wiedererkannt?«
    »Vielleicht.« Julia nahm ihr Wasserglas. »Zuerst war ich mir
     ganz sicher, aber jetzt weiß ich es nicht mehr so genau.« Sie
     sah den Polizisten an. »Es ist so lange her. Man denkt, dass
     man bestimmte Sachen niemals vergessen wird, aber das tut
     man.«
    »Ich würde sie mir gerne einmal ansehen«, sagte Lennart.
    »Das lässt sich bestimmt machen.« Sie wusste nicht recht,
     was Gerlof davon hielt, die Polizei einzubeziehen, aber das
     spielte jetzt keine Rolle mehr. Jens war ihr Sohn. »Glauben
     Sie, dass es was bedeuten kann?«, fragte sie.
    »Ich denke, wir sollten uns nicht zu viel davon erhoffen«,
     antwortete Lennart ernst. »Dann ist Gerlof auf seine alten
     Tage Privatdetektiv geworden?«
    »Privatdetektiv … ja, vielleicht.« Julia seufzte. Es tat gut,
     mit einem anderen Menschen als Gerlof darüber zu sprechen.
     »Er hat Theorien oder wie man das nennen soll. Vage Hypothesen … ich weiß nicht genau, was er glaubt. Er hat mir
     erzählt, dass man ihm die Sandale mit der Post geschickt hat,
     ohne Absender, und er hat von einem Mann namens Kant
     gesprochen, der früher …«
    »Kant?«, unterbrach Lennart sie. »Nils Kant? Hat er das gesagt?«
    »Ja«, antwortete Julia. »Er kam ursprünglich aus Stenvik,
     lebte aber nicht mehr dort, als ich zur Welt kam. Ich bin heute
     auf dem Friedhof gewesen und habe das …«
    »Er ist auf dem Friedhof von Marnäs begraben worden«, unterbrach Lennart sie erneut.
    »Ja, ich habe den Grabstein gesehen«, sagte Julia.
     Der Polizist starrte auf den Tisch. Seine Schultern hingen,
     auf einmal sah er wieder sehr müde aus.
    »Nils Kant … er weigert sich zu sterben.«

STENVIK, MAI 1945
    E ine große, grünlich schimmernde Fliege schwirrt im Sonnenschein über die Alvar. Sie fliegt zwischen Wacholderbüschen und Kräutern und landet schließlich behäbig auf einer
     ausgestreckten Handfläche. Ihre Flügel kommen zur Ruhe,
     sie streckt die Beine und bleibt stets bereit, beim kleinsten
     Anzeichen von Gefahr zu fliehen, aber die Hand liegt regungslos im Gras.
    Nils Kant hat seine Flinte noch im Anschlag und betrachtet
     die Schmeißfliege in der Hand des deutschen Soldaten.
    Der Soldat liegt auf dem Rücken, seine Augen sind offen,
     das Gesicht ist zur Seite gewandt, weshalb es fast aussieht, als
     würde er die Fliege erstaunt beobachten. Aber eine Seite
     des Halses und die linke Schulter des Soldaten sind von Nils’ Schrotflinte weggeschossen worden, das Blut hat die Uniform durchtränkt, und der Soldat sieht nichts mehr.
    Nils atmet langsam aus und horcht.
    Nachdem jetzt sogar das Summen der Fliege verstummt
     ist, hört man kein Geräusch mehr in der Alvar, es ist totenstill. Aber in Nils’ Ohren rauscht es noch von den zwei Schüssen. Sie sind bestimmt noch in weiter Ferne zu hören gewesen, aber Nils ist sich sicher, dass sie keiner bemerkt hat. In
     der Nähe führen keine

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