Öland
an.«
»Aha. Und warum?«, fragte Julia.
»Das wirst du schon sehen«, antwortete Gerlof.
11
J ulia stand auf dem Friedhof von Marnäs und betrachtete
das Grab von Nils Kant.
Es lag an der westlichen Friedhofsmauer am Ende einer
langen Reihe mit Grabsteinen. Der Name NILS KANT war in
den Stein eingraviert, darunter standen die Jahreszahlen
1925–1963. Der Stein war klein und bescheiden, ein einfacher Kalkstein, der vermutlich aus dem Steinbruch in Stenvik
stammte. Vielleicht hatte sogar Ernst ihn aus dem Fels geschlagen. Er war über dreißig Jahre alt, weiße Flechten hatten begonnen, seine Oberfläche zu erobern.
Auf dem Grab wuchs trockenes, gelbes Gras, aber es lagen
keine Blumen darauf.
Julia hatte sich gewundert, warum niemand Nils Kant verdächtigt hatte, als Jens verschwand. Statt einer Antwort hatte
Gerlof sie hierhergeführt, auf den menschenleeren Friedhof
von Marnäs, wo sie nun erkannte, warum Nils Kant nichts
mit dem Verschwinden ihres Sohnes zu tun haben konnte.
1972 war Nils Kant schon fast zehn Jahre tot gewesen. Das
war eine Antwort, die in Stein gemeißelt war.
Also gut. Eine weitere Sackgasse.
Zwei Meter weiter stand ein anderer Grabstein, auch aus
Kalkstein, aber höher und breiter. Auf ihm standen mehrere
Namen und Jahreszahlen: KARL-EINAR KANT 1889–1935 und
VERA KANT 1897–1972. Und in kleineren Buchstaben darunter:AXEL TEODOR KANT 1929–1936. Das musste der ertrunkene Bruder von Nils sein, dessen Körper im Sund verschwunden war.
Als Julia sich umdrehen und wieder gehen wollte, entdeckte sie etwas Kleines, Weißes, das hinter Nils Kants Grabstein im Wind flatterte. Sie zögerte kurz, ging hin und bückte
sich.
Es war ein weißer Briefumschlag, an dem der Wind ruckte,
eingeklemmt zwischen den Stielen einiger vertrockneter
Rosen.
Jemand musste vor nicht allzu langer Zeit Rosen hinter
den Grabstein gelegt haben, schloss Julia, denn die dunkelroten Blütenblätter waren noch nicht abgefallen. Als sie den
Briefumschlag aufhob, spürte sie, dass er feucht war. Wenn
jemand etwas daraufgeschrieben haben sollte, war die Tinte
mittlerweile vom Regen verwischt worden.
Sie sah sich um. Der Friedhof war menschenleer. Die weiße
Kirche von Marnäs erhob sich in fünfzig Meter Entfernung,
aber die Tür war verschlossen gewesen, als Julia an ihr gerüttelt hatte, und auch jetzt bewegte sich niemand hinter den
schmalen Kirchenfenstern.
Schnell stopfte sie den Briefumschlag in die Jackentasche
und wandte dem Grab den Rücken zu.
Sie ging zum Grab ihrer Mutter zurück und sammelte ein
paar gelbe Birkenblätter auf, die in den vergangenen Minuten
aufs Grab geweht worden waren. Dann überprüfte sie noch
einmal, ob die Kerze in dem kleinen Grablicht noch brannte.
Sie kehrte zum Auto zurück, um den knappen Kilometer
ins Zentrum von Marnäs zu fahren.
Als Julia klein war, bedeutete ein Ausflug vom Sommerhaus
nach Marnäs auf der Ostseite der Insel ein richtiges Abenteuer. Dort gab es nicht nur einen Kiosk, sondern richtige Geschäfte. Man konnte sich Spielsachen kaufen.
Als sie jetzt in die kleine Stadt fuhr, war sie vor allem für
die kostenlosen Parkplätze dankbar – ein großer Vorteil im
Vergleich zu Göteborg. Julia entschied sich für den Parkplatz
am Hafen. Dort gab es ein kleines Lokal, das Moby Dick Restaurant & Bar, dessen Tische am Fenster jetzt, etwa eine halbe
Stunde vor der Mittagspause, noch unbesetzt waren.
Im Hafen lagen weder Ausflugsdampfer noch Fischerboote. Julia stieg aus und ging auf den leeren Kai hinaus.
Sie blieb einige Minuten stehen und betrachtete das graue
Meer, das wegen der vielen kleinen Wellen ganz zerknittert
aussah. Der Horizont war leer, und hinter ihm, irgendwo
im Nordosten, lag Gotland und dahinter Osteuropa mit den
Ländern Estland, Lettland und Litauen, die sich von der Sowjetunion gelöst hatten. Eine Welt, die Julia noch nie besucht
hatte.
Sie drehte um und ging die Hauptstraße zurück, ohne jemandem zu begegnen, und fand einen Geldautomaten, an
dem sie dreihundert Kronen abhob. Der Kontostand bescheinigte ihr wie gewöhnlich, dass es nicht gut um ihre Finanzen
stand, und sie stopfte die Scheine schnell ins Portemonnaie.
Über der nächsten Ladentür hing ein Blechschild mit der
Aufschrift ÖLANDS-POSTEN. In kleineren Buchstaben stand
darunter: Die Tageszeitung für ganz Nordöland.
Julia zögerte kurz und betrat dann das Ladenlokal.
Eine kleine
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