Öland
Stunde bis zum Abendkaffee.
Routine, alles im Altersheim von Marnäs bestand aus Routine.
Aber das Gespräch im Keller war gut verlaufen. Ergebnisreich. Vielleicht war er am Ende ein wenig zu aufdringlich gewesen und hatte sich deshalb skeptische Blicke eingehandelt.
Er ließ sich aufs Bett fallen und nahm die Ölands-Posten vom Nachttisch, für deren Lektüre er am Morgen keine Zeit
oder vielmehr keine Lust gehabt hatte.
Der Todesfall in Stenvik war der große Aufmacher auf Seite
eins.Laut Polizei in Borgholm war es ein Unfall gewesen.
Ernst Adolfsson habe versucht, eine seiner Skulpturen an der
Abbruchkante zu versetzen, sei gestolpert, gefallen und unter dem großen Steinblock begraben worden. Man gehe nicht
von einem Verbrechen aus.
Gerlof las nur den Anfang von Bengt Nybergs Artikel und
blätterte zu weniger persönlichen Neuigkeiten um: Das Bauvorhaben in Långvik zog sich in die Länge, ein Brand in einem
Kuhstall außerhalb von Löttorp, der altersdemente Einundachtzigjährige, der vor einigen Tagen sein Haus im Süden
Ölands für einen Spaziergang verlassen hatte, wurde immer
noch vermisst. Er würde bestimmt irgendwann gefunden
werden, nur nicht lebend.
Gerlof faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf
den Nachttisch. Da fiel sein Blick auf Ernsts Portemonnaie. Er
nahm es in die Hand, klappte es auf und fand darin einige
Geldscheine und ein noch dickeres Bündel Quittungen. Die
Geldscheine ließ er im Portemonnaie, die Quittungen blätterte er langsam durch.
Gerlof suchte nach der jüngsten Quittung, am liebsten von
dem Tag, an dem die Skulptur des Kirchturms von Marnäs
auf Ernst gestürzt war. Aber es gab keine.
Aber er fand etwas anderes: eine gelbe Eintrittskarte für
ein Museum. Ramnebys Holzmuseum stand über einer kleinen
Zeichnung von gestapelten Holzbrettern und einem Datumsstempel: 13. September.
Er legte die Eintrittskarte auf den Nachttisch. Die restlichen Quittungen steckte er mit einer Büroklammer zusammen und legte sie in die Schublade. Dann setzte er sich an
den Schreibtisch, griff nach seinem Notizbuch und schlug
die erste leere Seite auf. Er nahm einen Bleistift, dachte einen
Augenblick nach und notierte zwei Dinge:
VERA KANT HAT GELÄCHELT, ALS NILS KANT BEGRABEN
WURDE.
ERNST HAT DAS SÄGEWERK DER FAMILIE KANT IN RAMNEBY BESUCHT.
Dann legte er die Eintrittskarte für das Museum in sein
Notizbuch, klappte es zu und wartete auf den Abendkaffee.
Routine, es bestand alles nur noch aus Routine, wenn man
alt war.
13
J ulia konnte sich nicht erinnern, das erste Glas Rotwein getrunken zu haben. Sie hatte zugesehen, wie Astrid ihr Glas
auf dem Küchentisch gefüllt hatte, und erwartungsvoll die
Hand danach ausgestreckt, und dann stand das Glas plötzlich leer vor ihr. In ihrem Körper breitete sich eine wohlige
Wärme aus, und sie hatte das Gefühl, einen lieben alten
Freund wiedergetroffen zu haben.
Vor Astrids Küchenfenster war ein herrlicher Sonnenuntergang zu sehen, aber Julia quälte nach ihrer langen Fahrradtour entlang der Küste Muskelkater.
»Möchtest du noch ein Glas?«, fragte Astrid.
»Ja, danke«, antwortete Julia möglichst ruhig. »Er schmeckt
sehr gut.«
Das zweite Glas versuchte sie langsamer zu trinken.
»Hattest du einen anstrengenden Tag?«, fragte Astrid.
»Ziemlich anstrengend«, antwortete Julia.
Aber genau genommen war gar nicht viel passiert.
Sie war Richtung Norden an der Küste entlang bis zum
Nachbarort Långvik geradelt und hatte dort zu Mittag gegessen. Danach hatte sie sich von einem alten Mann, der auf
seinem kleinen Bauernhof Eier verkaufte, anhören müssen,
dass ihr Sohn Jens umgebracht worden war.
»Ein ziemlich anstrengender Tag«, wiederholte Julia und
leerte ihr zweites Glas.
Am Abend zuvor war der Himmel sternenklar gewesen, als
Julia sich für eine weitere Nacht im Bootshaus fertig gemacht
hatte.
Die Sterne waren ihre einzigen Freunde an dem einsamen
Strand. Der Mond hing wie der Splitter eines grauweißen
Knochens im Osten, und Julia hatte am Strand in der Dunkelheit gestanden und eine halbe Stunde in die Sterne gesehen,
ehe sie zurück ins Bootshaus ging. Von dort sah sie auf der
anderen Straßenseite ein vertrautes Licht: die Lampe an
Astrids Haus. Sie zeigte an, dass es noch andere Menschen in
der Dunkelheit gab.
Julia war gleich eingeschlafen und acht Stunden später erholt aufgewacht, umgeben vom Geräusch der Wellen, die an
den
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