Öland
gut schlafen.«
»Schön. Aber halte Kontakt zu Astrid und John«, sagte Gerlof. »Ihr müsst zusammenhalten.«
»Natürlich.« Julia zog sich den Mantel an. »Ich war übrigens auf dem Friedhof, habe ein Licht für Mama angezündet.«
»Schön … Das brennt fünf Tage, bis zum Wochenende. Die
Friedhofsverwaltung kümmert sich um die Grabpflege. Ich
komme leider nicht so oft dorthin …« Gerlof hustete. »War für
Ernst schon ein Grab ausgehoben?«
»Ich habe keines gesehen«, sagte Julia. »Aber ich habe Nils
Kants Grab an der Steinmauer gefunden. Das wolltest du mir
doch zeigen, oder?«
»Ja.«
»Bevor ich zu dem Grab gekommen bin, habe ich mich
gefragt, warum Nils Kant damals nicht verdächtigt wurde«,
sagte Julia, »aber jetzt verstehe ich, warum ihn keiner erwähnt hat.«
Gerlof überlegte, ob er darauf hinweisen sollte, dass es für
einenMörder das Klügste wäre, sich tot zu stellen, aber er
schwieg.
»Da lagen Rosen auf dem Grab«, sagte Julia.
»Frische Rosen?«, fragte Gerlof.
»Nicht wirklich«, sagte Julia. »Vielleicht vom Sommer. Und
dann war da noch etwas anderes …«
Sie steckte ihre Hand in die Manteltasche und holte den
kleinen Briefumschlag heraus, der am Rosenstrauch gesteckt
hatte. Er war mittlerweile getrocknet, und sie reichte ihn
Gerlof.
»Wir sollten ihn vielleicht gar nicht öffnen«, sagte sie, »das
ist doch privat …«
Aber Gerlof hatte ihn bereits mit flinker Hand aufgerissen,
zog einen kleinen weißen Zettel heraus und las ihn laut:
»Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes dargestellt
werden.« Er sah Julia an. »Das ist alles, was hier steht … Es ist
ein Zitat aus dem Brief des Paulus an die Römer. Darf ich das
behalten?«
Julia nickte.
»Liegen oft Blumen und Briefe auf Kants Grab?«, fragte
sie.
»Nicht oft«, sagte Gerlof und legte den Briefumschlag in
seine Schreibtischschublade. »Aber es ist im Laufe der Jahre
immer wieder vorgekommen. Ich habe ein paar Mal Rosensträuße gesehen.«
»Das heißt, Nils Kant hat noch Freunde unter den Lebenden?«
»Ja, auf jeden Fall gibt es jemanden, der sich an ihn erinnern möchte«, sagte Gerlof und fügte hinzu: »Menschen mit
einem schlechten Ruf haben ja ab und an auch Bewunderer.«
Sie schwiegen.
»Okay. Dann fahre ich jetzt nach Stenvik«, sagte Julia
schließlich und knöpfte den Mantel zu.
»Was machst du morgen?«
»Vielleicht fahre ich mal nach Långvik«, sagte Julia. »Wir
werden sehen.«
Nachdem seine Tochter das Zimmer verlassen hatte, ließ
Gerlof die Schultern hängen. Er war müde. Er hob die Hand
und sah seine Finger zittern. Es war ein anstrengender Nachmittag gewesen, aber er hatte trotzdem noch etwas Wichtiges zu erledigen.
»Torsten, hast du eigentlich damals Nils Kant begraben?«,
fragte Gerlof einige Stunden später.
Die beiden saßen an zwei Arbeitstischen des Hobbyraums
im Keller. Nach dem Abendessen war Gerlof mit dem Aufzug
in den Hobbykeller gefahren und hatte dort über eine Stunde
gewartet, bis eine ältere Dame aus dem ersten Stock ihre
schier endlose Webarbeit beendet hatte.
Er wollte allein mit Torsten Axelsson sein, der vom Krieg
bis in die Siebzigerjahre auf dem Friedhof von Marnäs gearbeitet hatte. Während Gerlof auf den richtigen Augenblick
wartete, hatte sich die Herbstdunkelheit vor den schmalen
Kellerfenstern herabgesenkt. Es war Abend geworden.
Ehe er seine entscheidende Frage stellte, hatte Gerlof mit
Axelsson über das bevorstehende Begräbnis gesprochen, um
ihn vom Gehen abzuhalten. Axelsson litt ebenfalls an Rheuma, war aber vollkommen klar im Kopf, und so war es meistens sehr unterhaltsam, mit ihm zu plaudern. Er schien nicht
mit derselben nostalgischen Sehnsucht an seine Arbeit als
Totengräber zurückzudenken wie Gerlof an seine Zeit zur
See; aber er blieb im Hobbykeller, und sie redeten über alte
Zeiten.
Gerlof saß an einem Tisch, der übersät war von kleinen
Holzstückchen, Kleber, Werkzeug und Sandpapier. Er arbeitete an einem Modell der Galeasse PAKET, Borgholms letztem
Segelfrachter, der in den Sechzigerjahren in Stockholm zu einem Ausflugsboot umgebaut worden war. Der Schiffsrumpf
stand,aber an der Takelage gab es noch einiges zu tun, sie
würde ohnehin erst richtig fertig werden, wenn alles in der
Flasche war und er die Masten hochziehen und die letzten
Tampen befestigen konnte.
Gerlof feilte vorsichtig eine kleine Kerbe in den Masttop
und
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