Öland
Strand schlugen.
Sie ging zum Sommerhaus hoch, um sich zu waschen
und zu frühstücken, und als sie danach über das Grundstück
schlenderte, entdeckte sie hinter dem Geräteschuppen ein
altes Damenfahrrad. Es war rostig und schlecht geölt, aber es
hatte noch genug Luft in den Reifen.
Sie beschloss, bis Långvik zu radeln und dort zu Mittag zu essen. In Långvik wollte sie versuchen, einen alten
Mann namens Lambert zu finden, um sich für eine Ohrfeige zu entschuldigen, die sie ihm vor vielen Jahren gegeben hatte.
Die Küstenstraße nach Norden war eher ein Kiesweg als eine
richtige Straße, staubig und voller Schlaglöcher, aber man
konnte darauf fahren. Und die Landschaft war so wunderschön, wie sie es schon immer gewesen war, zur Rechten die
Alvar und zur Linken, einige Meter unterhalb der Klippenkante, das glitzernde Wasser. Julia vermied es, in den Steinbruch zu sehen, als sie daran vorbeifuhr. Sie wollte nicht wissen, ob man noch etwas sehen konnte.
Nachdem sie den Steinbruch hinter sich gelassen hatte, genosssie die Fahrradtour, die Sonne im Gesicht und den Wind
im Rücken.
Långvik lag fünf Kilometer nördlich von Stenvik, war aber
größer und ein ganz anderer Dorftyp. Hier gab es eine offizielle Badestelle mit Sandstrand, einen Gästehafen für Segler,
mehrere größere Häuser mit Eigentumswohnungen im Zentrum sowie Feriendörfer südlich und nördlich des Ortes.
GRUNDSTÜCKE ZU VERKAUFEN stand auf einem Schild
am Straßenrand. In Långvik wurde ununterbrochen gebaut:
Zäune, Markierungspfähle und neu angelegte Kieswege liefen
in die Alvar und endeten zwischen großen Paletten mit eingeschweißten Dachziegeln und Stapeln imprägnierter Bretter.
Darüber hinaus gab es ein Hafenhotel, so breit wie der
Sandstrand, drei Stockwerke hoch und mit einem großen
Restaurant.
Julia aß das Nudelgericht im Restaurant mit einem Anflug
von Nostalgie. Anfang der Sechzigerjahre hatte sie in diesem
Lokal oft getanzt. Das Hotel war wesentlich kleiner gewesen,
als sie mit anderen Teenagern aus Stenvik hierhergeradelt
kam, aber schon damals imposant gewesen. Auf einer großen
Holzveranda oberhalb des Strandes hatten sie bis Mitternacht
getanzt. Rockmusik vermischt mit dem Rauschen der Wellen. Der Geruch von Schweiß, Rasierwasser und Zigaretten.
Hier in Långvik hatte Julia ihr erstes Glas Wein getrunken
und war ab und zu spät in der Nacht auf einem knatternden
Moped nach Hause gefahren worden. In voller Fahrt und
ohne Helm durch die Dunkelheit in der festen Überzeugung,
dass das Leben phantastisch werden wird.
Die Holzveranda gab es nicht mehr, und das Hotel war
ausgebaut und um große helle Konferenzräume und einen
Swimmingpool erweitert worden.
Nach dem Mittagessen hatte Julia angefangen, in dem Buch
zu lesen, das ihr Gerlof gegeben hatte. Der Titel lautete Öländische Verbrechen. In dem Kapitel mit der Überschrift »Der Mörder,der davonkam« hatte sie gelesen, was Nils Kant an jenem
Sommertag 1945 in der Alvar getan hatte:
Wer waren die zwei uniformierten Männer, die Nils Kant in der
Alvar an diesem schönen Tag so kaltblütig hinrichtete?
Vermutlich waren es deutsche Soldaten, denen es gelungen war,
die Ostsee auf der Flucht vor den grausamen Kämpfen in Kurland an
der Westküste Lettlands in der Endphase des Zweiten Weltkrieges zu
überqueren. Die Deutschen waren in Kurland von der Roten Armee
eingekesselt worden, die einzige Chance zu entkommen bestand darin, in einem schwimmenden Gefährt sein Glück zu versuchen. Die
Risiken waren groß, dennoch versuchten in dieser Zeit sowohl Soldaten als auch Zivilisten die Flucht aus dem Baltikum nach Schweden.
Aber keiner weiß es genau. Die toten Soldaten trugen weder Dokumente noch Pässe bei sich, durch die man sie hätte identifizieren können, darum bekamen sie ein namenloses Grab.
Dennoch hatten sie Spuren hinterlassen. Als Kant die beiden Leichen in der Alvar zurückließ, konnte er nicht wissen, dass ein kleines,
grünes Motorboot mit russischem Namensschild am selben Morgen
in einer Bucht einige Kilometer südlich gefunden worden war.
In dem offenen, leckgeschlagenen Boot befanden sich unter anderem deutsche Soldatenhelme, Dutzende verrosteter Konservenbüchsen, ein Topf, ein abgebrochenes Ruder und eine kleine Dose mit dem
medizinischen Puder von Dr. Theodor Morell, Hitlers Leibarzt. Das
Puder, ein Mittel gegen Läuse, wurde in Berlin exklusiv für
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