Öland
und jemand erhob sich.
Zu seiner großen Überraschung war es John Hagman. Sowohl John als auch sein Sohn Anders schienen sich in ihren
schwarzen Anzügen sehr unwohl zu fühlen.
John räusperte sich, sein Gesicht war rot, seine Hände fingerten an den Taschen seiner Jacke herum. Dann setzte er zu
einem kleinen Nachruf an.
»Ja …«, begann er. »Ich mache so etwas normalerweise
nicht … nicht wirklich oft … Aber ich wollte ein paar Worte
über meinen, über unser aller Freund Ernst sagen und über
Stenvik. Dort wird es jetzt noch stiller und dunkler werden …«
Eine knappe Stunde später war Gerlof wieder im Altersheim
und aß sein aufgewärmtes Mittagessen. Auf einem der Tische
in dem leeren Speisesaal lag die aktuelle Ausgabe der Ölands-Posten. Gerlofs Blick fiel auf die Schlagzeile: VERSCHWUNDENER RENTNER TOT AUFGEFUNDEN.
Noch so eine traurige Nachricht. Der alte Mann war erfroren hinter einem Busch in der Alvar gefunden worden war.
Die Polizei gehe nicht von einem Verbrechen aus, so dieZeitung. Der Mann habe sich offensichtlich nur etwa einen
Kilometer von dem Dorf entfernt, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte, verlaufen. Gerlof kannte den Toten zwar
nicht, deutete den Artikel aber trotzdem als ein schlechtes
Omen.
Den restlichen Nachmittag verbrachte er in seinem Zimmer und ließ auch den Kaffee ausfallen. Er kam erst wieder
zum Abendessen heraus, das an diesem Tag aus öländischen
Kartoffelklößen mit Speckfüllung bestand, zu wenig gesalzen und mit viel zu wenig Speck – nicht zu vergleichen mit
den Köstlichkeiten, die Ella ein- bis zweimal im Monat gekocht hatte –, aber Gerlof würde trotzdem alles aufessen.
»Ist in der Kirche auch ohne mich alles gut gegangen?«,
fragte Marie, als sie ihm Klöße auftat.
»Ja, natürlich«, sagte Gerlof.
»Dann ist Ernst Adolfsson jetzt unter der Erde?«, bemerkte
Maja Nyman von der anderen Seite des Tisches.
Genau genommen stammt sie auch aus Stenvik, dachte
Gerlof, obwohl sie vor über vierzig Jahren weggezogen ist.
Er nickte. Er nahm seine Gabel und begann zu essen.
»Sah der Sarg schön aus?«, fragte Maja.
»Ja, schon«, sagte Gerlof. »Weiß lackiertes Holz, poliert und
schön.«
»Ich möchte einen aus Mahagoni haben«, sagte Maja.
»Wenn das nicht zu teuer ist … Sonst gibt es eben billiges Holz
und eine Einäscherung.«
Gerlof nickte, nahm einen Bissen von seinen Klößen und
wollte gerade kundtun, dass Einäscherung allem anderen
vorzuziehen sei, als Boel seine Schulter berührte.
»Telefon«, sagte sie leise.
Er drehte den Kopf.
»Beim Abendessen?«
»Ja. Es scheint wichtig zu sein. Lennart Henriksson ist
dran … von der Polizei.«
»Dann gehe ich lieber ran«, sagte er.
Julia? Es ging bestimmt um Julia, und es mussten zwangsläufig schlechte Nachrichten sein. Mühsam erhob er sich.
»Sie können das Telefon in der Küche benutzen«, sagte Boel.
Auf den Stock gestützt, ging er in die Küche. Das Telefon
hing an der Wand, Gerlof hob den Hörer ab.
»Davidsson«, sagte er.
»Gerlof … hier ist Lennart.«
Seine Stimme klang ernst.
»Ist was passiert?«, fragte Gerlof, obwohl er die Antwort
schon kannte.
»Ja. Es geht um Julia … Sie ist nicht nach Göteborg gefahren.«
»Wo ist sie?«
Gerlof hielt den Atem an.
»In Borgholm«, antwortete Lennart. »Im Krankenhaus.«
»Ist es schlimm?«
»Ziemlich. Aber es hätte schlimmer ausgehen können. Sie
hat sich einige Verletzungen zugezogen und wird im Krankenhaus zusammengeflickt.«
»Was ist passiert?«, fragte Gerlof. »Was hat sie denn nur angestellt?«
Lennart zögerte und antwortete dann:
»Sie ist gestern Abend bei Vera Kant ins Haus eingebrochen
und die Treppe heruntergefallen. Sie war ein bisschen, ja, wie
soll ich sagen, sie war ziemlich verwirrt, als ich sie gefunden
habe. Sie behauptet, das Haus sei bewohnt, und zwar von
Nils Kant.«
21
J ulia wurde von einem lang gezogenen Quietschen aus der
Wärme des Schlafs gerissen, und nach einigen Sekunden erinnerte sie sich wieder, wo sie sich befand: im großen Haus
der Familie Kant.
Sie fror. Die Schmerzen in ihrem geschundenen Körper
hatten sie entkräftet, und nach einer langen Nachtwache auf
dem Fußboden war sie eingeschlafen und hatte vom letzten
gemeinsamen Sommer mit Jens auf Öland geträumt, in dem
in ihrer Erinnerung immer die Sonne geschienen hatte. Als
der Herbst noch in weiter Ferne lag.
Vor ihren Augen
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