Offenbarung
ihn.
Scorpios Hände zitterten. Seine sonst so menschliche Stimme
klang so dünn, als wäre er ein Geist, der im Begriff war,
sich aufzulösen. »Nicht so Leid wie mir.«
»Ich hätte es getan. Sie brauchten es nur zu
sagen.«
»Das konnte ich nicht verlangen«, sagte Scorpio.
»Das konnte man von niemandem verlangen.«
Vasko suchte nach Worten. Er hätte gern gefragt, ob Skade ihm
gestattet hatte, barmherzig zu sein. Seiner Schätzung nach war
er nicht länger als zehn Minuten fort gewesen. Konnte man, wenn
man diese Zeit in Schmerzen umsetzte, daraus schließen, dass
Skade Clavain den angekündigten langen Todeskampf erspart hatte?
Hatte sie womöglich doch so etwas wie Gnade walten lassen, auch
wenn diese Gnade nur im Verzicht auf wenige Minuten unaussprechlicher
Qualen bestand?
Er wusste es nicht. Und er war nicht sicher, ob er es erfahren
wollte.
»Ich habe den Inkubator mitgebracht, Sir. Ist das
Kind…«
»Aura geht es gut. Sie ist bei ihrer Mutter.«
»Und Skade, Sir?«
»Skade ist tot«, erklärte Scorpio. »Sie
wusste, dass ihre Zeit abgelaufen war.« Die Stimme des Schweins
klang dumpf, ohne jedes Gefühl. »Sie hatte ihre letzten
Reserven dazu verwendet, Aura am Leben zu erhalten. Als wir ihren
Körper öffneten, war nicht mehr viel von ihr
übrig.«
»Sie wollte, dass Aura lebt«, sagte Vasko.
»Oder sie wollte ein Pfand haben, um uns Clavain
abzupressen.«
Vasko hielt den leichten Plastikbrutkasten in die Höhe, als
hätte ihn Scorpio nicht richtig verstanden. »Der Inkubator,
Sir. Wir sollten das Kind sofort hineinlegen.«
Scorpio bückte sich und wischte das Skalpell am Eis ab. Die
rote Flüssigkeit sickerte in die Kristalle ein und bildete ein
Muster, das Vasko an Schwertlilien erinnerte. Er dachte, Scorpio
würde das Messer wegwerfen, aber das Schwein steckte es in die
Tasche.
»Jaccottet und Khouri können das Kind in den Inkubator
legen«, sagte er. »Wir beide kümmern uns inzwischen um
Clavain.«
»Sir?«
»Es war sein letzter Wunsch, im Meer bestattet zu
werden.« Scorpio wandte sich dem Schiff zu. »Ich denke, das
sind wir ihm schuldig.«
»Waren das seine letzten Worte, Sir?«
Scorpio drehte sich um und sah Vasko mit schief gelegtem Kopf
lange an. Der junge Mann hatte den Eindruck, noch einmal an den
gleichen strengen Maßstäben gemessen zu werden, die der
Alte angelegt hatte, und auch diesmal hatte er das Gefühl, ihnen
nicht genügen zu können. Was wollten diese Relikte aus der
Vergangenheit von ihm? Welchen Erwartungen sollte er gerecht
werden?
»Es waren nicht seine letzten Worte, nein«, antwortete
Scorpio leise.
Sie legten den Sack mit der Leiche draußen auf dem Eisring
ab. Vasko musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass es noch
nicht einmal Mittag war: Der Himmel war von einem wässrigen
Grau, und so weit das Auge reichte, hingen die Wolken so tief herab,
als wollten sie die Spitze des Eisbergs streifen. Wenige Kilometer
entfernt starrte ein scharf umrissener dunkler Fleck wie ein
böses schwarzes Auge auf das Meer herab. Der Fleck bewegte sich
gegen den Wind, als suchte er nach etwas. Am Horizont zuckten grelle
Blitze über den matten Silberhimmel, und Regenschauer zogen
träge ihre rußigen Bahnen.
Ringsum wogte das Meer griesgrämig und grau. Auf allen Seiten
tauchten glitschige, ölig türkisgrüne Gebilde auf.
Vasko hatte sie schon früher gesehen. Sie brachen durch die
Oberfläche, verharrten kurz und verschwanden wieder, bevor das
Auge sie richtig erfassen konnte. Man hatte den Eindruck, eine
riesige Walschule sei im Begriff, den Eisberg zu umzingeln. Die
Gebilde wölbten sich auf, tanzten zwischen Wellen und Gischt,
verschmolzen miteinander, teilten sich wieder, umkreisten sich und
verschwanden. Form und Größe ließen sich nicht genau
bestimmen. Aber es waren keine Tiere. Es waren Ansammlungen von
Mikroorganismen, die ein kohärentes Verhalten zeigten.
Scorpio beobachtete das Meer mit einem Gesichtsausdruck, den Vasko
noch nie an ihm gesehen hatte. Hatte das Schwein am Ende gar
Angst?
»Es tut sich etwas, nicht wahr?«, fragte Vasko.
»Wir müssen ihn über das Eis tragen«, sagte
Scorpio. »Das Boot hält noch ein paar Stunden durch. Helfen
Sie mir, ihn hineinzuheben.«
»Wir sollten uns nicht zu lange aufhalten, Sir.«
»Meinen Sie, es spielt irgendeine Rolle, wie lange wir
brauchen?«
»Nach dem, was Sie sagten, Sir, war es für Clavain nicht
unwichtig.«
Sie wuchteten den Sack in die schwarze Höhlung des
nächsten Bootes. Bei
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